Die Seidenbaronin (German Edition)
junge Mädchen. «Irgendetwas sagt mir, dass sein Gerede nicht nur der Verwirrtheit des Alters zuzuschreiben ist.»
«Nun ja, es gab da Gerüchte …»
«Was für Gerüchte?»
Die alte Dame zögerte. «Es gab Gerüchte, dass … Ihre Mutter war nach ihrer Hochzeit lange in Mecklenburg bei der Familie Bahro, müssen Sie wissen. Zu lange, wie manch einer meinte. Es wurde einiges geredet.»
«Was genau wurde geredet?» Paulina war nun vom unwiderstehlichen Drang gepackt, endlich etwas über ihre Eltern in Erfahrung zu bringen.
«Was stellen Sie nur für Fragen, mein Kind?», seufzte die Baronin unglücklich. «Ich habe mich so darüber gefreut, dass Sie mich besuchen kommen. Und nun erinnern Sie mich an Dinge, die ich längst vergessen habe und an die ich nicht erinnert werden möchte.»
Paulina sah die alte Dame eindringlich an. «Es war nicht meine Absicht, Sie zu beunruhigen, Madame. Aber Sie scheinen einer der wenigen Menschen zu sein, die wissen, was mit meinen Eltern geschehen ist. Warum hat meine Mutter meinen Vater verlassen? Warum hat man angenommen, dass Jobst von Gralitz nicht mein Vater sei? Was hat die Familie Bahro mit alldem zu tun? War der Sohn der Gräfin Bahro am Ende der Liebhaber meiner Mutter?»
«Gott bewahre!», entfuhr es der Baronin Herrenheim. «Was reden Sie da? Versündigen Sie sich nicht! Ulrich von Bahro ist über jeden Zweifel erhaben. Außerdem lebte er zu jener Zeit am Hof von Hannover. Um Schloss Bahro kümmerte sich damals ein Neffe des verstorbenen Grafen. Der Neffe … nun ja, man sagt, er mochte Sophie sehr gerne.»
«Er stand im Verdacht, der Vater von Sophies Kind zu sein», half Paulina der Baronin auf die Sprünge.
«Niemand hat es laut gesagt … aber … Ach, mein Kind, warum zerbrechen wir uns den Kopf über solch unangenehme Dinge, die längst der Vergangenheit angehören? Außerdem entsprechen sie nicht der Wahrheit. Sie sind die Urenkelin von Antonia, daran gibt es nicht den geringsten Zweifel.» Entschlossen stand die alte Dame auf. «Kommen Sie! Ich möchte Ihnen etwas zeigen.»
Paulina folgte der Baronin in die Eingangshalle des Schlosses. Sie stiegen eine breite, geschwungene Treppe hinauf, deren Wand von Familienporträts gesäumt war. Auf der obersten Stufe blieb die Baronin stehen und deutete auf eines der Gemälde.
«Schauen Sie!»
Paulina hatte geahnt, was die alte Dame ihr zeigen wollte, aber sie war nicht auf das gefasst, was sie nun zu sehen bekam.
Vor ihr hing das Bild einer jungen Frau, die kaum älter war als sie selbst. Sie hatte ein hübsches, ebenmäßiges Gesicht, das von kastanienbraunem Haar umrahmt war. Ihr matter Teint verriet ihre südländische Herkunft, doch das wirklich Reizvolle an ihr war der Ausdruck ihrer meerblauen Augen. Die junge Frau strahlte das blühende Leben aus, aber es war nichts Liebliches, Sanftes oder gar Demütiges in ihren Augen. Stolz und selbstbewusst schaute sie in die Welt – als wollte sie das Schicksal herausfordern.
Das bin ja ich, schoss es Paulina durch den Kopf, und sie fühlte sich auf seltsame Weise ertappt.
«Antonia von Gralitz-Boltenhusen, Ihre Urgroßmutter», stellte die Baronin Herrenheim vor. «Mein Bruder hat sie über alles geliebt. Auch wenn er es weiß Gott nicht einfach mit ihr hatte.»
Das kann ich mir vorstellen, dachte Paulina und starrte das Bild an. Sie sah Antonia wirklich zum Verwechseln ähnlich, aber das hatte sie ja schon gewusst. Was sie jedoch regelrecht erschütterte, war etwas anderes.
Der Maler hatte es verstanden, in seinem Werk neben dem anziehenden Aussehen der jungen toskanischen Dame auch ihren Charakter einzufangen. Paulina war es, als hätte man ihr einen Spiegel vorgehalten. Sie war nicht nur äußerlich das Ebenbild ihrer Urgroßmutter, sie hatte zweifellos auch deren eigenwillige, widersprüchliche Persönlichkeit geerbt.
«Verstehen Sie nun, was ich meine?», fragte die Baronin Herrenheim.
Paulina konnte nur stumm nicken.
«Es ist wirklich schade, dass Sie schon so bald wieder aus Mecklenburg abreisen müssen», sagte die Baronin plötzlich.
Paulina riss sich von dem Gemälde los. Auf einmal war ihr der Gedanke unerträglich, das Schloss ihrer Vorfahren und dieses weite Land voller Seen, Wind und Raps wieder verlassen zu müssen, kaum dass sie es kennengelernt hatte.
«Ja, es ist schade», murmelte sie. «Aber ich werde wiederkommen. Eines Tages werde ich wiederkommen.»
Kapitel 11
Trugenhofen, Juni 1789
«Ich kann nicht mehr!», stöhnte Agnes
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