Die Seidenbaronin (German Edition)
ausgestreckten Arm sinken. Ihr Gesicht verzog sich zu einem glückseligen Lächeln. «Ich danke Gott dafür, dass ich das noch erleben darf! Du warst jahrelang im Irrtum, Bernhard. Wenn diese junge Dame dort Fräulein von Gralitz ist, dann muss sie deine Urenkelin sein. Sie ist Antonia wie aus dem Gesicht geschnitten!»
«Nehmen Sie Platz, Mademoiselle!», sagte die Baronin Herrenheim freundlich zu Paulina und deutete auf eine kleine Sitzgruppe, die aus drei mit rotem Samt überzogenen Stühlen und einem zierlichen Holztischchen bestand.
«Ich bin überglücklich, dass Sie die Zeit gefunden haben, den weiten Weg nach Boltenhusen zu machen», sagte die Baronin. «Es ist wirklich verblüffend. Sie könnten wahrhaftig die junge Antonia sein. Beim Empfang in Neustrelitz glaubte ich einen Moment lang, ich sei einem Trugbild erlegen. Ich hoffe, Sie verzeihen uns die Aufregung, die wir verursacht haben. Sie wissen mittlerweile, wer Antonia war?» Die Baronin nahm eine Kanne aus feinem Porzellan, die auf dem Tischchen bereitstand, und schenkte Tee in zwei kleine Tassen ein.
«Ja, die Gräfin Bahro hat mich aufgeklärt», antwortete Paulina ein wenig steif. «Antonia war meine Urgroßmutter, die Gemahlin des Barons von Gralitz-Boltenhusen.» Sie fühlte sich leicht beklommen neben der Baronin. Ob es wirklich so eine gute Idee gewesen war, nach Boltenhusen zu kommen?
«Wir haben nicht mehr oft Besuch», fuhr die alte Dame fort. «Es ist so unglaublich still geworden in Boltenhusen. Viele unserer alten Weggefährten sind bereits von uns gegangen. Und seit mein Bruder ein wenig … nun, sagen wir … merkwürdig geworden ist, kommen auch die Jüngeren nicht mehr. Umso mehr hoffe ich, dass die Worte des Barons nicht allzu kompromittierend für Sie waren. Er weiß manchmal nicht mehr, was er redet.»
Die Baronin Herrenheim trank einen Schluck Tee.
«Ich habe übrigens beschlossen, meinem Bruder nichts von Ihrem Besuch zu erzählen. Es würde ihn zu sehr aufregen. Er glaubt immer noch, seine verstorbene Gattin wiedergetroffen zu haben, und lässt sich das nicht ausreden. Da es ihn anscheinend sehr glücklich gemacht hat, möchte ich ihm die Freude nicht nehmen.»
Paulina sah sich in dem schönen Salon um, in den die Baronin sie nach ihrer Ankunft in Schloss Boltenhusen geführt hatte. Alles war freundlich, aufgeräumt – und einladend. Durch die hohen Fenster sah man auf einen gepflegten Park mit sorgfältig gestutzten Hecken und sauberen Wegen.
«Schön haben Sie es hier in Boltenhusen, Madame», sagte Paulina aus tiefstem Herzen.
Die Baronin lächelte freudig. «Ja, nicht wahr? Es ist immer mein Wunsch gewesen, meine letzten Tage in Boltenhusen zu verbringen. Leider sind nur noch wir beiden alten Leutchen übrig geblieben.» Sie beugte sich zu Paulina herüber und legte in einer vertraulichen Geste ihre schmale Hand auf den Arm des jungen Mädchens. «Ich habe mich immer gefragt, was wohl aus Ihnen geworden ist. Jobst wollte ja nie darüber reden. Und nun haben wir auch von ihm schon seit vielen Jahren keine Nachricht mehr. Können Sie mir vielleicht etwas über Ihren Vater sagen?»
Paulina schüttelte den Kopf. «Nein, ich weiß überhaupt nichts von meinem Vater. Nach dem Tod meiner Mutter hat sich die Gräfin Bahro mit ihm in Verbindung gesetzt, aber er hat ihren Boten nicht einmal empfangen.» Sie sah, dass die Baronin zusammenzuckte, und fragte besorgt: «Ist Ihnen nicht gut, Madame?»
Die alte Dame drückte kurz Paulinas Arm. «Nein, es ist nichts. Ich wusste nur nicht, dass Sophie verstorben ist. Sie armes Kind! Nun haben Sie niemanden mehr!»
«Wie Sie wissen, bin ich Gesellschafterin Ihrer Hoheit Prinzessin Therese», sagte Paulina. «Ich werde mit ihr nach Bayern gehen. Schon in wenigen Tagen werden wir nach Schloss Trugenhofen aufbrechen.»
«Wie schade! Dann werde ich Sie also vorerst nicht wiedersehen. Umso glücklicher bin ich, dass Sie mich aufgesucht haben. Es bedeutet mir sehr viel, dass durch Sie alle Zweifel aus dem Weg geräumt wurden.»
Paulina horchte auf. «Dann ist also doch etwas Wahres an dem, was der Baron auf dem Empfang gesagt hat?»
«Der Geist meines Bruders ist etwas verwirrt», beschwichtigte die Baronin sie schnell – ein wenig zu schnell, wie Paulina fand. «Bedenken Sie, dass er sich schon in einem fortgeschrittenen Alter befindet. Alte Menschen pflegen manchmal zu faseln.»
«Wie kommt er darauf, dass Jobst von Gralitz nicht mein Vater sein könnte?», insistierte das
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