Die seidene Madonna - Roman
Anwesenheit des Mannes trösten können, der sein Meister und zugleich sein Herr war. In dieser Hinsicht konnte Alix Pierre de Coëtivy keinen Vorwurf machen. Er hatte dem Kind, das er allerdings nie hatte anerkennen wollen, eine gute Erziehung zukommen lassen, und die Worte, mit denen er die Arbeit seines Schülers vor den Mitgliedern der Prüfungskommission verteidigt hatte, mussten sie von Anfang an überzeugt haben.
Dann kamen noch vier junge Handwerker mit ihrer Arbeit unter dem Arm herein. Sie schienen sich zu kennen und setzten sich dicht nebeneinander ans andere Ende der langen Tische.
Schließlich erschien in Begleitung einiger weiterer Kommissionsmitglieder, unter ihnen der neue Bischof von Tours und Erzbischof Lenoncourt aus Reims, ein Mann, der sie gleich von weitem erkannte. Hocherfreut ging Alix auf ihn zu. Es war Le Viste der Jüngere, den sie einige Zeit zuvor in Lyon kennengelernt hatte. Er begrüßte sie respektvoll und sicherte ihr seine Unterstützung zu. Dann winkte er ihr herzlich zu und nahm neben den anderen Ausschussmitgliedern Platz.
Nach und nach füllte sich der große Saal, und es wurde immer
lauter, weil alles durcheinanderredete, während den Kandidaten das Herz bis zum Hals schlug. Alix hätte viel darum gegeben, wenn sie jetzt ganz woanders gewesen wäre. Ihre Angst wurde immer größer, und ihre Hände zitterten verräterisch. Sie zwang sich zur Beherrschung, als sie endlich den Mann hereinkommen sah, den sie schon ungeduldig erwartet hatte: Jean de Villiers.
»Monseigneur Jean!«, rief sie und lief auf ihn zu. »Ich hatte solche Angst, Ihr würdet nicht kommen. Oh, bitte verzeiht mir meine übertriebene Aufregung, aber ich zittere bei der bloßen Vorstellung, die Kommission könnte mich ablehnen.«
»Ich fürchte, Julio geht es wie dir. Er zittert wie Espenlaub«, sagte der Kardinal lächelnd.
Dann warf sich ihm Alix an die Brust und spürte die tröstliche Umarmung seiner starken Arme. Sie vergrub ihren Kopf an seiner Schulter und seufzte erleichtert. Großer Gott! War das wunderbar, wenn man endlich einen Beschützer hatte! Sie merkte, wie ihre Ängste verflogen und ihr Mut zurückkehrte. Dann sah sie dem Kardinal in die Augen und sagte ganz leise:
»Es sieht so aus, als wärt Ihr der Einzige, der für mich sprechen will, Jean.«
»Deshalb bin ich ja auch hier.«
Dann schob er sie sanft von sich, und da erst entdeckte sie Julio. Er war sehr blass und trug ebenfalls sein Meisterstück unter dem Arm.
»Julio!«, rief sie. »Ich weiß überhaupt nicht mehr, was los ist! Ich habe solche Angst vor den Worten, die mich für immer aus dieser Welt ausschließen könnten, zu der ich unbedingt gehören will.«
Sie umarmte den Freund, dessen Miene sich bei ihrem Anblick erhellt hatte.
»Mach dir keine Sorgen, mein guter Julio, du hast das Glück,
dass du ein Mann bist, und mit Jean an der Seite kann dir gar nichts passieren. Da bin ich mir ganz sicher.«
Julio war viel zu aufgeregt, um etwas sagen zu können, also lächelte er Alix nur an, während in seinen Augen bereits wieder der Funken der Angst erglomm, der sich in ihren spiegelte.
»Ach!«, seufzte Alix. »Was gäbe ich darum, wenn ich jetzt auch ein Mann sein könnte!«
»Hab Vertrauen, Alix«, flüsterte der Kardinal. »Ich lasse Euch nicht im Stich.«
Dann riet er ihnen, sich zu den anderen jungen Leuten zu setzen. Er selbst trat zu den Mitgliedern der Gilde, die ihn hochachtungsvoll begrüßten. Da wurde ihr plötzlich bewusst, wie viel Einfluss der Kardinal hatte und dass seine Stellungnahme mit Sicherheit viel Beachtung finden würde, und dieser Gedanke verlieh ihr neuen Mut.
Doch kaum hatte sie sich ein wenig erholt, als sie Maître de Coëtivy hereinkommen sah. Sofort erstarrte ihr das Blut in den Adern, und ihre Kehle war wie zugeschnürt. Sie hatte ihn seit dem schrecklichen Tag nicht mehr gesehen, als er sie in seinem grausamen Hass in Lille ins Gefängnis hatte werfen lassen, weil sie angeblich dem Maler Dürer einige Aquarelle gestohlen hatte. Das war jetzt beinahe acht Jahre her! Er wirkte sehr gealtert, war aber trotz seiner hängenden Schultern und der Falten im Gesicht noch immer eine stattliche Erscheinung. Von seiner üppigen schwarzen Haarpracht, die ihm früher bis auf die Schultern fiel, war nur noch ein dünnes graues Vlies übrig. Alix wusste, dass seine Frau, Dame Bertrande, gestorben war und er allein in Flandern lebte.
Er blieb einen Moment vor ihr stehen, um sie mit seinem herrischen Blick
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