Die seidene Madonna - Roman
»heute auf Wunsch und Empfehlung von Monseigneur Jean de Villiers in unserer Mitte.«
Er war der einzige Bankier unter den Anwesenden - wenn man einmal von den kleinen Pfandverleihern absah -, dessen Name hier eher unbekannt war.
Bedächtigen Schrittes ging Sire Van de Veere an den Tischen entlang, die man mit einem langen nachtblauen Tuch verhüllt hatte, auf das nach und nach jungfräuliches Pergament, Tinte und Federn gelegt wurden.
Van de Veere grüßte im Vorbeigehen. Bei seinem Anblick schwiegen alle. Einen derart einflussreichen Mann hatte man ernst zu nehmen, seine Gegenwart zählte. Mit ihm war sozusagen die gesamte Florentiner Finanzwelt vertreten. Als er an Alix vorbeikam, warf er ihr einen kurzen Blick zu, der niemandem entging. Man schrieb ihn jedoch seinem Erstaunen über die Bewerbung einer Frau zu. Da war es nur allzu verständlich, dass ein hoher Herr aus der Finanzwelt so reagierte, und man kümmerte sich nicht weiter darum.
Die Mitglieder der Gilde begrüßten ihn herzlich, beweihräucherten ihn geradezu und schenkten ihm beinahe noch mehr Aufmerksamkeit als eben Kardinal de Villiers, der immerhin direkt aus dem Vatikan gekommen war. Ein hochrangiger Prälat gereichte der Versammlung zur Ehre, ein einflussreicher Bankier sorgte für Geld!
Die eigentliche Besprechung der einzelnen Anträge begann erst am Nachmittag. Zunächst wurde die allgemeine wirtschaftliche Lage der Tapisserie in Flandern, später dann in ganz Europa diskutiert. Man debattierte über große Pläne, die Einigkeit, Aufträge aus dem Ausland und hochgestellte Persönlichkeiten an den verschiedenen europäischen Königshöfen, die Bestellungen aufgegeben hatten, und über deren Wünsche und gegenwärtige Finanzkraft.
Ebenso sprach man über die Ressourcen und die jüngsten Verluste, die mit der Pest wegen der erheblich geringeren Arbeitsleistung in allen großen Werkstätten einhergingen.
Ein weiterer wichtiger Punkt waren die großen Handelszentren wie Arras, Tournai, Brüssel und Brügge, die eine wichtige ausländische Klientel mit Königen und ranghohen Klerikern bedienten. Heftig diskutiert wurden außerdem die aktuellen großen Aufträge, wobei jeweils auch die Namen der Kartonmaler erwähnt wurden, weil es sich bei ihnen zumeist um große Meister handelte. Spanien hatte kürzlich eine Bestellung mit dem Titel Die Verherrlichung des Heiligen Kreuzes in Auftrag gegeben, und England Wandteppiche zum Thema Die Jagd von Devonshire .
Schließlich kam man zum eigentlichen Zweck der Versammlung, und die ersten Arbeiten wurden vorgestellt. Alle wurden angenommen, einschließlich der von Julio. Voller Angst sah Alix zu, wie einer nach dem anderen aufgerufen wurde, und sie befürchtete
schon, die Kommission könnte sie vergessen oder einfach übersehen, als wäre sie gar nicht da.
Dann wurde aber doch noch, ganz zum Schluss, ihr Name aufgerufen, und der Richter winkte sie nach vorn.
»Dame Alix Cassex«, sagte er zu ihr, »stammt Ihr aus der Brügger Weberfamilie des gleichen Namens, deren Sohn Martin Mitglied dieser Gilde ist?«
»Ja, Euer Ehren, ich bin die Witwe von Jacques Cassex, dem Enkel von Thomassaint Cassex aus Brügge.«
Bei dem Wort »Witwe« stockte der Richter kurz, als er aber merkte, dass im Saal geflüstert wurde, fuhr er sogleich fort:
»Jacques Cassex war ein junger Weber, den wir nicht sehr gut kannten. Habe ich es recht in Erinnerung, dass er Euer Schüler gewesen ist, Maître de Coëtivy?«
Plötzlich fühlte sich Alix wieder stark, das Blut schoss ihr durch die Adern, und alle dummen Ängste und Sorgen waren auf einmal wie weggeblasen. In diesem Augenblick wurde ihr klar, dass es um ihr Leben ging, das Leben, für das es sich zu kämpfen lohnte. All die Leute in dem Saal kamen ihr mit einem Mal so ganz und gar gewöhnlich vor; die Erfahrung hatte sie gelehrt, dass jeder von ihnen genauso jeden Tag von einer tödlichen Seuche oder einem anderen Schicksalsschlag ruiniert und vernichtet werden konnte.
Alix richtete sich auf, ihre Wangen waren rot vor Zorn, und ihre Augen funkelten empört. Es scherte sie nicht, ob vielleicht jemand aus der Versammlung sich entrüsten würde oder ob ihr niemand half - mit dem Mut der Verzweiflung wollte sie sich allein verteidigen.
Und während sich Pierre de Coëtivy damit begnügte, die Frage des Richters mit einem Kopfnicken zu beantworten, rief sie:
»Jacques war sein Sohn, Euer Ehren!«
Zum ersten Mal an diesem Tag kam so etwas wie Betroffenheit auf,
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