Die seidene Madonna - Roman
aber die Versammlung sollte im Laufe der nächsten Stunden noch genug solcher Momente erleben. Diese kleine Alix brachte jedenfalls mehr als einen der Anwesenden zum Staunen.
Nur der Richter blieb ungerührt. Diese Tatsache war ein offenes Geheimnis, das schon lange jeder kannte, das aber noch nie vor einer Versammlung der Gilde zur Sprache gekommen war.
»Das stimmt«, sagte de Coëtivy, und seine Stimme klang hohl. »Nachdem dieser junge Mann nun aber gestorben ist, wäre ich dankbar, wenn kein Aufheben darum gemacht würde.«
»Das könnte Euch so passen«, entgegnete Alix, »weil sich die Toten nicht mehr wehren können!«
Jean de Villiers sah sie verärgert an und bedeutete ihr mit Blicken, dass sie diesen bedenklichen Weg besser nicht weiterverfolgen sollte, um ihren Antrag nicht unnötig zu gefährden.
Einen kurzen Moment lang fürchtete sie, ihr Ausruf könnte ihr wirklich geschadet haben, und sie beschloss, auf Jeans Rat zu hören und ihren Schwiegervater nicht weiter anzugreifen, solange er sie nicht dazu herausforderte. Als sie einen Blick zu Alessandro Van de Veere warf, lächelte er ihr zu. Diese ganz andere Reaktion tat ihr gut, und ein wenig beruhigt nahm sie wieder Platz.
»Kommen wir zu Eurem Werk, Dame Cassex«, sagte der Richter. »Wer hat die Patenschaft für Euch übernommen?«
»Ich«, meldete sich Jean de Villiers zu Wort. »Ich, Jean de Villiers, ehemaliger Domherr an der Kathedrale zu Tours im Val de Loire und seit beinahe zehn Jahren Kardinal im Vatikan in Rom unter Papst Alexander Borgia.«
Er sah sich in der Runde um, dann blieb sein Blick an Alix hängen.
»Ich muss noch hinzufügen, dass ich mit dieser jungen Frau entfernt verwandt bin«, fuhr er laut und deutlich fort. »Bekanntlich
war mein Vater Türke, aber ich wurde schon als Kind katholisch getauft auf den Wunsch meiner Mutter, Blanche de Villiers, hin, der zweiten Frau des Webermeisters Thomassaint Cassex.«
»Vielen Dank«, sagte der Richter, der sehr beeindruckt von dieser Eröffnung schien. »Man möge die fragliche Arbeit entrollen.«
Kaum hatte man die Tapisserie von Alix präsentiert, als es auch schon den ersten Einwand gab.
»Was für eine Ungeheuerlichkeit! Diese Dame mit dem Einhorn ist nichts als eine Kopie!«
»Eine Kopie?«, rief Alix, die aufgesprungen war und den Mann mit wütenden Blicken maß, der diese Beleidigung ausgesprochen hatte. »Ich verbiete Euch, dieses infame Wort im Zusammenhang mit meiner Arbeit in den Mund zu nehmen.«
»Meister Van Thiegen hat recht«, meldete sich Mortagne zu Wort und grinste höhnisch. »Diese Arbeit ist eine Beleidigung für alle großen Weber unter uns.«
»Könntet Ihr das bitte etwas genauer erläutern, Meister Mortagne?«, verlangte der Richter ungerührt.
»Alles ist kopiert«, wiederholte der, »einfach alles: die Dame, die Darstellung der Tiere und der Pflanzen, das Thema an sich.«
»Das Dekor ist ein Millefleurs«, sagte Alix hochrot vor Zorn, »und die Tiere zeichnen alle Weber so, egal ob groß oder klein. Was das Thema anbelangt, so ist es eine Jungfrau mit dem Einhorn und keine Dame. Und das ist ganz allein meine Idee.«
»Die eine Figur ist eine Kopie!«, schrie Mortagne und blitzte sie überheblich an.
»Das stimmt nicht! Ich habe sie verwendet!«, schrie nun auch Alix. »Ihr wisst ganz genau, dass jeder Weber auf diese Technik zurückgreift, wenn sich seine eigene Schöpfung mit einem allgemeinen Motiv überschneidet.«
»Das ist allerdings richtig«, unterstützte sie der Sohn Le Viste.
Van Thiegen wandte sich an ihn und sagte wütend:
»Wenn Euer Vater hier wäre …«
»Mein Vater ist aber nicht da, und wenn er es wäre, kann ich Euch versichern, dass er auch nichts anderes sagen würde. Die Arbeit dieser Frau ist eine ganz persönliche Schöpfung.«
»Falsch!«, mischte sich nun auch Seigneur de La Tournelle lautstark ein. »Diese Frau stiehlt nur die ganze Zeit die Ideen von anderen Leuten.«
Alix, die sich wieder gesetzt hatte, sprang empört auf. Mutig hielt sie dem eisigen Blick ihres Feindes stand.
»Etwa weil ich es gewagt habe, als Erste die Initiale der Stadt Tours auf meinen ersten Teppich zu weben - was andere eigentlich auch gern gemacht hätten? Was kann ich dafür, dass sie nicht schneller waren?«
»Es gibt Gesetze, meine Tochter, und sie sind dazu da, respektiert zu werden«, brach es aus Erzbischof Lenoncourt heraus.
»Respektiert!«, äffte ihn Alix nach. »Ihr respektiert ja nicht einmal eine Frau, wenn sie ganz
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