Die seidene Madonna - Roman
zu mustern, verzog aber keine Miene. Dann entfernte er sich wortlos und begrüßte die Gildemitglieder, die sich sofort
genauso eifrig um ihn bemühten, wie kurz zuvor bei Kardinal Jean de Villiers.
Jetzt erst erkannte Alix einen der Männer, in deren Begleitung de Coëtivy erschienen war, und da kehrte auf einmal ihre ganze Energie zurück. Dieser Mann hatte sie einmal im Stich gelassen, als sie in großer Not war, obwohl er eng mit ihr verwandt war. Alix stand auf, ging zu ihm hin und redete ihn ohne Umschweife an.
»Guten Tag, Martin Cassex!«, sagte sie laut und deutlich. »Wir tragen den gleichen Namen. Deshalb wage ich zu hoffen, dass Ihr, schon allein Eurer Familie zu Ehren, Fürsprecher für mein Meisterstück sein werdet, das ich heute der Webergilde vorstellen will.«
Ihr angeheirateter Onkel, dem sie hier gerade zufällig begegnet war und der sie bisher nie irgendwie unterstützt hatte, war sehr erstaunt über diesen unerwarteten Angriff und wollte gerade etwas erwidern, aber Alix war noch nicht fertig.
»Nachdem Ihr Euch leider nie um mich gekümmert habt, mein lieber Onkel, und weil Ihr gar nicht wisst, was sich in Frankreich so ereignet, möchte ich Euch mitteilen, dass der Sohn Eurer Schwester, mit dem ich sechs Jahre verheiratet war, bei der Pest gestorben ist, die letztes Jahr im Val de Loire gewütet hat.«
Er wollte etwas sagen, aber sie schnitt ihm wieder das Wort ab.
»Könnt Ihr Euch noch daran erinnern, wie die Pest vor fünfundzwanzig Jahren Eure Schwester in Paris geholt hat? Ihr wart damals noch sehr jung, und ihr letzter Gedanke galt wahrscheinlich Jacquou, den sie gerade erst zur Welt gebracht hatte. Wahrscheinlich hätte es sie sehr bekümmert zu erfahren, dass Ihr ihn so im Stich gelassen habt. Zum Glück hatte sie aber auch noch Jean de Villiers, der ihr zur Seite stand.«
»Léonore«, murmelte Martin Cassex und griff sich an die
Stirn, auf der ihm plötzlich der Schweiß stand. »Ach, was wisst Ihr schon von dieser Geschichte, Alix! Ich habe alles versucht, um meine ältere Schwester zu retten, die ich sehr bewunderte und liebte. Aber wie Ihr schon sagtet, war ich damals nur ein Junge, und diese verdammte Pest hat uns allen schrecklich zugesetzt.«
»Aber was war danach?«, bohrte Alix weiter, »auf die Katastrophe folgt doch immer eine gute Zeit.«
Er machte eine Geste der Hilflosigkeit.
»Danach kam der Alltag, jeder dachte nur an sich.«
Traurig sah er sie an und versuchte ein Lächeln, in dem sie eine Spur von Reue zu erkennen glaubte. Er hatte die gleichen goldbraunen Augen wie Jacquou. So musste Léonore ausgesehen haben! Ja, sie ähnelten alle ihrem Großvater Thomassaint Cassex.
»Selbstverständlich werde ich für Eure Arbeit sprechen, Alix«, versprach ihr Martin Cassex.
Da schenkte sie ihm endlich auch ein Lächeln.
»Vielen Dank«, sagte sie nur, setzte sich wieder neben Julio und sah sich nach Jean um, der sich mit Pierre de Coëtivy unterhielt. Ihre unterschiedliche Meinung über den Grund ihrer Anwesenheit schien keine Rolle zu spielen. Dann sah sie, wie Jean seinen Stiefbruder Martin Cassex umarmte, der sich zu ihnen gesellt hatte. Wie lange war es nun schon her, dass Jean de Villiers, damals noch Domherr im Bistum Tours, das neugeborene Kind von Léonore zu Pierre de Coëtivy gebracht hatte, weil der sein Vater war.
Alix beobachtete den Haupteingang. Immer mehr Kommissionsmitglieder erschienen, mittlerweile herrschte ein großes Gedränge. Alle begrüßten sich, riefen sich etwas zu oder unterhielten sich lautstark. Es dauerte gut zwei Stunden, ehe es so leise wurde, dass man mit dem ersten Antrag beginnen konnte.
Nur einer fehlte noch in der illustren Runde, und Alix begann
ihn bereits schmerzlich zu vermissen, weil sie insgeheim ihre ganze Hoffnung auf ihn gesetzt hatte. Als sie schon nicht mehr daran zu glauben wagte, hatte er seinen vornehmen halb florentinischen, halb flämischen Auftritt.
Er trug dieselbe lange purpurrote Robe mit dem Hermelinkragen wie bei ihrer ersten Begegnung, und auch das Barett mit dem großen Smaragd, der so viel Zuversicht und Mut ausstrahlte. Es thronte über seinem hochmütigen Gesicht mit der Hakennase und verlieh ihm ein geradezu majestätisches, italienisch anmutendes Auftreten, das den anderen fehlte. Zu den Kommissionsmitgliedern zählte ja sonst auch kein Florentiner. Wie ließ sich seine Gegenwart überhaupt erklären? Das sollte Alix gleich erfahren.
»Sire Alessandro Van de Veere«, wurde er angekündigt,
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