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Die Seidenstickerin

Die Seidenstickerin

Titel: Die Seidenstickerin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jocelyne Godard
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Vielleicht auch Marguerite, wenn Ihr meint. Souveraine begleitet Euch jedenfalls nicht.«
    »Wie Ihr wollt, Jeanne«, sagte Louise und wandte sich dann an Saint-Gelais.
    »Nehmt François bitte zu Euch aufs Pferd, und sagt Philibert, er soll mit meinem Pferd und Marguerites Muli kommen. Wir wollen versuchen, ob wir zum Marktplatz durchkommen.«
    Das ging zwar alles sehr schnell, dennoch fand Saint-Gelais die Zeit zu bewundern, wie elegant Louise auf ihr Pferd stieg.
    Nachdem sie sich durch das Menschengewühl geschlängelt hatten – die Gendarmen hielten ständig Passanten, Gaffer, Kaufleute oder Hausierer auf, erreichten sie den Marktplatz und sahen den Galgen, der wie ein drohendes Mahnmal in den Himmel ragte.
    Die Zuschauer aus Poitiers, die längst von dem Schauspiel erfahren hatten, standen dicht gedrängt um den Platz. Um nur ja nichts von dem Spektakel zu verpassen, warteten sie schon seit einigen Stunden. Manche waren sogar schon morgens gekommen und saßen auf kleinen Schemeln, die sie mitgebracht hatten. Andere gebrauchten Ellenbogen und Fäuste, um bessere Plätze zu ergattern. Wer wie Louise und Saint-Gelais nur zufällig vorbeigekommen war, band sein Pferd an einen Pfosten oder den nächstbesten Baum und versuchte ganz nach vorn zu gelangen.
    »Aus dem Weg, Leute, lasst die Gräfin d’Angoulême durch!«, donnerte Philibert, der Verstärkung von dem dicken Bonaventure bekommen hatte.
    Manche verbeugten sich überrascht oder traten zur Seite, andere waren so gespannt, dass sie gar nichts anderes mitbekamen und wie angewurzelt auf dem Platz blieben, den sie sich erobert hatten.
    Mit Müh und Not erreichten Louise und ihre Kinder im Schlepptau von Saint-Gelais eine Empore, von der aus man den ganzen Platz samt Galgen überblickte.
    Die Händler, die ihre Kramerbuden hier in der Nachbarschaft hatten, beglückwünschten sich bereits zu den vermutlich zwei- bis dreimal so hohen Einnahmen, die ihnen dieser Menschenauflauf bescheren dürfte. Alles redete laut durcheinander, man rief um Hilfe, gestikulierte wild und ungeduldig – die einen waren hochrot vor Aufregung, die anderen bleich vor Entsetzen.
    »Wer wird denn da gehängt?«, wollte Marguerite wissen.
    »Ich weiß es nicht. Wahrscheinlich ein Schwerverbrecher oder vielleicht sogar ein Mörder«, antwortete Louise ziemlich ratlos.
    »Jean, könnt Ihr vielleicht herausfinden, wer da heute gehängt wird? Ich bleibe hier bei den Kindern. Bitte seid doch so freundlich und erkundigt Euch, was der Mann verbrochen hat, Jean, ja? Wir rühren uns nicht von der Stelle.«
    François zappelte ungeduldig herum.
    »Ist der Schuldige verurteilt worden?«, fragte er und stellte sich auf die Zehenspitzen, um den Galgen besser sehen zu können.
    »Jeder Mensch hat ein Recht auf Gerechtigkeit, mein Sohn, unabhängig von dem, was er verbrochen hat. Aber der Mann, der da gehängt wird, beginnt zu begreifen, dass er seine Freiheit verloren hat.«
    Ihre eigenen Worte machten ihr plötzlich Angst. Verlor nicht auch sie gerade eine kostbare Selbstbestimmung, ein unabhängiges und glückliches Leben, das sie vielleicht nie wiederbekommen sollte?
    Warum eigentlich gab sie ihre Heimat auf, ohne sich auch nur einmal bedauernd umzusehen, obwohl sie dort weder Einsamkeit noch Kummer erlebt hatte, abgesehen vielleicht von der kurzen Trauerzeit nach dem Tod ihres Gatten?
    Beim Anblick dieses trostlosen Galgens wurde ihr erst richtig bewusst, wie unbeschwert und friedlich sie die vergangenen Jahre verbracht hatte. Dieser bedrohliche Galgen, der da vor ihr stand, ließ sie mit einem Mal ahnen, welch Unglück hätte geschehen können und dass sie der gütige Himmel bisher vor schrecklichen Schicksalsschlägen bewahrt hatte, die einen um den gesunden Menschenverstand bringen konnten. Um sich dieser plötzlichen Erkenntnis zu entziehen, zwang sie sich, an die Jahre zu denken, die ihr bevorstanden und sich einzureden, dass sie in Zukunft glücklich und reich sein würde.
    Eine kleine Hand tastete vorsichtig nach ihrer, und Louise spürte, dass Marguerites Finger zitterten. Mit einem zärtlichen Händedruck versuchte sie ihre Tochter zu beruhigen. Wieder einmal machte sie die Beobachtung, dass Marguerite als Einzige zu ahnen schien, was alles auf sie zukam, obwohl sie noch so jung war.
    Louise lächelte ihrer Tochter zu.
    Jean de Saint-Gelais war von seinem Erkundungsgang zurückgekommen.
    »Ich habe herausgefunden, wer der Verbrecher ist. Es ist ein Mönch, der seine Schwester vergewaltigt

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