Die Seidenstickerin
von Mathias vorsah.
Langsam wurde es hell, und ein kalter weißer Sonnenstrahl strich über das große Glasfenster. In der Werkstatt wurde wie üblich auf Hochtouren gearbeitet.
Weil es so bitterkalt war, hatte Arnaude ihren kleinen Sohn Guillemin bei einer Nachbarin gelassen, die ausnahmsweise bis zum Abend auf ihn aufpassen wollte. Das kam allerdings nur selten vor, obwohl sie es sich schon einmal leisten konnten, weil Arnold jetzt nicht mehr allein verdiente.
Als die Glocken von Saint-Pierre zehn Uhr schlugen, bald gefolgt von den zehn Schlägen der Kathedrale, knurrte Florine, deren Bauch allmählich immer runder wurde, der Magen. So ging das nun jeden Vormittag. Dann machte sie eine kurze Pause und wickelte ihre bescheidene Mahlzeit aus einem rot karierten Geschirrtuch. Mit großem Appetit biss sie in ein Stück Brot mit geräuchertem Speck und verspeiste einige Weizenküchlein zusammen mit einem Apfel oder etwas Quittengelee.
So gesättigt, legte sie die Hände auf ihren Bauch, lächelte bei dem Gedanken an das Kind, das sie in ein paar Monaten zur Welt bringen würde, und machte sich wieder an ihre Arbeit.
Florine war ganz ruhig, heiter und entspannt, und Alix hätte nur zu gern selbst auch ein wenig von diesem Glück genossen, das ihr die Mutterfreuden bereiteten. Doch das Schicksal hatte es anders mit ihr gemeint. Also seufzte sie nur, betrachtete noch einen Moment Florines ruhige Miene und vertiefte sich dann wieder ganz in ihre Arbeit. Schließlich brauchte die Werkstatt jetzt auch viel mehr ihre fleißigen Hände als das Geschrei eines Neugeborenen.
Auf den Metallrahmen, an dem Alix arbeitete, war die Zeichnung von Van Orley gespannt, eine typisch weltliche Szene: In der Mitte sah man ein Tier, das halb Drache, halb Löwe war, und darum herum eine üppige Vegetation aus Lianen und exotischen Pflanzen mit wilden Vögeln mit geschwungenen Federn und krummen Schnäbeln und kleinen halbnackten Gestalten, die sich ausgelassen haschten und Verstecken spielten.
Viele Kartonmaler jener Zeit ließen sich für ihre profanen Themen, wenn sie sich nicht an den herrschaftlichen Szenerien orientierten, von den Gemälden von Hieronymus Bosch inspirieren. Der flämische Maler war vor allem mit seinem »Garten der Lüste« berühmt geworden. Dieses Bild zeigte das Leben aus manichäischer Sicht und stand so im Gegensatz zu den Grundsätzen der berühmten »Apokalypse«, weshalb Bosch auch eher die weltlich Gesinnten als die Frommen ansprach.
Als Alix sah, dass das große Fenster von einer dicken Eisschicht überzogen war, fröstelte sie. Die ersten Januartage waren wohl wirklich die Vorboten einer großen Kälteperiode.
»Es hat gefroren«, sagte sie zu den anderen. »Wir müssen das Eis im Hof aufhacken, damit keine Kunden oder Besucher, die zu uns kommen wollen, stürzen und sich verletzen.«
Mathias stand auf.
»Das kann ich machen«, sagte er, »aber ich fürchte, in einer halben Stunde müssen wir von vorn anfangen, weil der Nieselregen sofort wieder auf dem Boden friert.«
Er wickelte sich in einen warmen Pelz, holte aus dem Schuppen neben der Werkstatt eine Schaufel und kratzte das Pflaster im Hof geräuschvoll frei. Überall in der Nachbarschaft war zu hören, wie die Leute mit Schaufeln die Eingänge vor ihren Läden und Häusern vom Eis befreiten.
Alix konzentrierte sich wieder ganz auf ihre Arbeit und vergaß das Eis, den Schnee und das schlechte Wetter. Sie bewegte ihr Schiffchen, als hätte sie nie im Leben etwas anderes gemacht. Beim Bedienen des Blatts merkte sie, dass ein Schiffchen beschädigt war.
»Gauthier«, wandte sie sich an den alten Meister, der zusammen mit Arnold an dem zweiten großen Webstuhl arbeitete. »ich glaube, du musst mir helfen. Ich kann mir jetzt keine Panne leisten. Die Kämme funktionieren, aber der Schaft klemmt.«
Als Gauthier zu ihr kam um nachzusehen, machte sie ihm Platz und trat hinter das Gewebe, das auf der Rückseite genauso sauber und exakt gearbeitet sein musste wie vorn. Zufrieden stellte sie fest, dass ihr Stich perfekt war, eng und dicht, und dass das Bild genauso schön glänzte und in allen Farben schillerte wie auf der Vorderseite.
Aus: Jocelyne Godard, Les Ateliers de Dame Alix Band 2:
Les Vierges du Vatican
Die französische Originalausgabe erschien 2006 bei
Le Sémaphore, Paris.
Deutsche Ausgabe in Vorbereitung.
Die französische Originalausgabe erschien 2005
unter dem Titel »Les Licornes – Les Ateliers de Dame Alix 01«
bei Les Éditions
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