Die Seidenstickerin
für den Herzenswunsch eines alten Bischofs, der immer nur versucht hatte, die Menschen zu lieben und zu verstehen?
»Du musst nach Rom reisen, Jacquou. Sonst lässt dir dein Gewissen keine Ruhe.«
»Aber was wird aus der Werkstatt?«
»Mach dir keine Sorgen, schließlich bin ich ja auch noch da. Und Meister Gauthier wird dich bestimmt vertreten.«
»Aber ja, natürlich«, sagte der alte Mann, hocherfreut darüber, dass er sich so nützlich machen konnte.
Weil Jacquou noch immer zögerte, nahm ihn Alix in den Arm und liebkoste ihn, während sie auf ihn einredete wie auf ein kleines Kind: »Wenn Jean uns nicht geholfen hätte, uns nicht verheiratet und gerettet hätte, wären wir jetzt nicht zusammen, Jacquou, das weißt du doch. Deinem Vater wäre es bestimmt gelungen, uns für immer zu trennen. Vielleicht wäre ich sogar tot, wer weiß! Vielleicht wärst du in den Fängen einer schrecklichen Megäre, die dich nicht lieben, sondern quälen würde. Vielleicht hättest du deinen Beruf aufgegeben, um dich hier oder sonst wo zu Grunde zu richten?«
Als sie spürte, wie sein Widerstand allmählich dahinschmolz, wusste sie, dass sie gewonnen hatte. Jacquou würde nach Rom fahren.
»Wir werden unsere Aufträge rechtzeitig fertig bekommen. Die ›Jagd auf das Einhorn‹ können wir Anfang Winter liefern, und auch die anderen Arbeiten wie geplant. Vertrau auf mich.«
»Aber so eine Reise ist teuer!«, wehrte sich Jacquou noch immer. »Nach Italien ist es kein Katzensprung, mein Herz. Und wir haben kein Geld.«
»Ich kann es dir geben«, bot der alte Gauthier sich an.
»Bemüht Euch nicht«, mischte sich jetzt Van Orley ein und legte eine prall gefüllte Geldbörse auf den Tisch.
»Was ist das für Geld?«, fragte Jacquou erstaunt.
»Das ist das Geld, das Ihr für die Reise braucht. Jean de Villiers befürchtete zu Recht, Ihr würdet Euch die Reise nicht leisten können. Aber ich durfte Euch nicht gleich alles sagen, erst musste ich Eure Entscheidung abwarten.«
Er machte eine Pause und fuhr dann fort:
»Jean de Villiers hat mir die gleiche Geldbörse versprochen für den Fall, dass ich Euch zu ihm bringe«, erklärte er. »Aber dafür ist dieses Geld hier nicht – sondern für einen Auftrag des Vatikans, an dem wir arbeiten sollen, Ihr und ich.«
Alix war vor lauter Freude wie aus dem Häuschen. Jacquou würde nach Rom reisen und den Auftrag für mehrere Wandteppiche mitbringen! Bei dem Geheimnis, das Jean nicht mit ins Grab nehmen wollte, musste es sich also um etwas sehr Bedeutsames handeln!
Van Orley war beinahe genauso begeistert wie Alix und berichtete weitere Einzelheiten.
»Ich soll die Kartons für eine Serie zum Thema ›Offenbarungen des Abraham‹ zeichnen. Ihr würdet allerdings mit mehreren anderen Webern zusammenarbeiten, weil der Auftrag sehr umfangreich ist.«
»Und wer ist da vorgesehen?«, fragte Jacquou, dessen Stimme vor Spannung zitterte.
Er wusste schließlich, dass ihm die Zusammenarbeit mit berühmten Webern den Weg zum Ruhm öffnen würde.
»Pierre de Pannemaker, Wilhelm de Kempeneer, Jean Van Tieghen und Leo Van den Hecke, alles Weber aus Brüssel.«
»Und lauter Weber von Rang!«, sagte Jacquou beeindruckt. »Welchen Umfang hat denn der Auftrag?«
»Es geht um zehn Wandbehänge von vier auf sieben Meter, damit die Figuren wesentlich größer als bisher dargestellt werden können. Bischof Villiers wünscht, dass der italienische Stil zum Tragen kommt. Also keine Bordüren mit Blumen oder Blättern, sondern Menschen mit reliefartigen Frisuren, ausdrucksstarken Gesichtern, schön drapierten Faltengewändern und Augen voller Licht und Schatten.«
»Die ›Offenbarungen des Abraham‹! Das ist ja beinahe so großartig wie die ›Apokalypse nach Johannes‹. Habt Ihr diesen Teppich einmal gesehen, Meister Van Orley? Er hängt in der Kathedrale von Angers. Ich habe ihn gesehen, als ich acht Jahre alt war, und war von diesem Wunderwerk zutiefst ergriffen.«
»Meiner Meinung nach kann nur die ›Apostelgeschichte‹, die Meister Raffael gezeichnet hat, einem Vergleich standhalten. Auch sie besteht aus zehn großen Bildteppichen. Man hat aber gerade erst mit der Ausführung begonnen, und es heißt, es wird Jahre dauern, bis die Teppiche fertig sind.«
Alix dachte an die zu erwartenden, sehr willkommenen Einkünfte und sagte gut gelaunt:
»Liebe Bertille, seid nicht so bescheiden. Euer Essen war mal wieder einfach köstlich. Was täten wir nur ohne Euch? Ihr seid eine wahre
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