Die Seidenstickerin
Herr«, sagte sie ein wenig schroff, »aber ich weiß noch immer nicht, wer Ihr seid.«
»Seid unbesorgt, ich bin weder ein Lümmel noch ein Dieb, und auch kein Landstreicher oder falscher Mönch. Ich bin der Graf d’Angoulême und glaube, dass uns dieser glückliche Zufall zusammengeführt hat, damit wir beide gemeinsam am selben Tag und zur selben Stunde vor dem König erscheinen können.«
Sie sah ihn erstaunt an.
»Ihr werdet also auch von Louis XII. erwartet?«
»Ja, und ich wage zu hoffen, nicht weniger als Ihr. Aber jetzt sollten wir uns nicht länger mit Schwatzen aufhalten, wenn Ihr doch seit drei langen Stunden unter Hunger und Kälte leidet. Wer begleitet Euch denn außer Kardinal de Villiers noch in dieser Kutsche?«
Mit dem Kopf deutete er auf den umgestürzten Wagen. Das ganze Vorderteil steckte in dem schlammigen Graben, und die Hinterräder drehten sich in der Luft. Als der Graf d’Angoulême näher kam, sah er zwei Männer, die verzweifelt versuchten, das Gespann wieder aufzurichten.
»Das sind Hochwürden Jean de Villiers und der Kutscher«, erklärte die junge Constance und zeigte mit dem Finger auf sie. »Die beiden versuchen, den Wagen aus dem Schlamm zu ziehen.«
»Wart Ihr nur zu dritt?«
»Nein! Ich reise mit Alix. Aber sie hat bei dem Unfall einen Schock erlitten und liegt wie tot auf dem Boden in der Kutsche. Wir sind also zu viert.«
Jetzt endlich konnte Charles hinter dem aufgelösten Haar auch Constances hübsches Mädchengesicht erahnen. Mit großen tiefschwarzen Augen sah sie ihn besorgt an. Sie war zwar ganz rot vor Aufregung, aber ihre Haut wirkte doch so zart wie kostbare Seide.
Sie ging ein paar Schritte vor ihm her. Die Kutsche war umgestürzt, und unter dem erneut einsetzenden Regen versuchten die beiden Männer sie aufzurichten, versanken aber bei jedem Versuch nur noch mehr im Morast. Ein Windstoß fegte dem Kardinal seine Mütze vom Kopf, die auf dem nassen Boden landete. Der Kutscher wollte sie aufheben, konnte sich aber nicht entschließen, die Tür loszulassen, die er als Halt zum Ziehen brauchte, zögerte erst und ließ es dann bleiben.
Constance und der Graf d’Angoulême erreichten die beiden mit einer heftigen Böe, die sie unsanft gegen die Tür der Kutsche schleuderte.
»Das ist der Graf d’Angoulême, Jean«, sagte Constance und verzog ihr Gesicht vor Schmerz. »Er will uns helfen.«
Charles ging gebückt auf die beiden Männer zu und hielt die Enden seines Umhangs fest. Er musste plötzlich an seinen Degenknopf denken, in dem die Taler verstaut waren, die er für den verkauften Familienschmuck bekommen hatte.
»Ich fürchte, dass Ihr die Kutsche nicht aufstellen könnt. Das Vorderteil ist schon viel zu tief im Schlamm«, meinte der Graf d’Angoulême, nachdem er mit einem Blick die vergeblichen Anstrengungen der beiden taxiert hatte.
»Ihr seid gut, mein Herr, was sollen wir denn ohne die Kutsche anfangen?«, fragte Hochwürden de Villiers.
»Was ist mit den Pferden? Sind sie verletzt?«
»Das eine ist schwer verletzt, es hat zwei Beine gebrochen; ich fürchte, wir müssen es töten.«
Charles nickte.
»Sein Wehgeschrei hat mich hierhergelockt. Wenn ich das nicht gehört hätte, wäre ich sofort vom Fluss weggeritten, um die überfluteten Ufer zu meiden. In wenigen Stunden ist die Straße nicht mehr passierbar.«
Er trat zu dem Pferd, das sich einigermaßen beruhigt hatte. Es röchelte nur noch leise.
»Müssen wir es wirklich töten?«
»Was bleibt uns übrig? Das ist eine traurige Aufgabe, die ich nur sehr ungern erledige, obwohl ich mehr Soldat als Prälat bin.«
Er hörte auf, sich sinnlos abzumühen, richtete sich auf und fragte:
»Kennen wir uns nicht?«
»Wir haben wohl schon einmal Seite an Seite gekämpft.«
Nun ließ der Kardinal endgültig von der Kutsche ab, die sich nicht einen Millimeter von der Stelle bewegt hatte.
»Jetzt erinnere ich mich. War das nicht im ›Verrückten Krieg‹ gegen die Regentin Anne de Beaujeu? Ihr seid der Graf d’Angoulême.«
»Ihr habt ein sehr gutes Gedächtnis, Hochwürden. Aber wie hätte ich Euch in diesem Kardinalsgewand erkennen sollen? Ich kann mich nur an den kleinen Abbé erinnern, der sich im Schloss von Nantes wie ein richtiger Soldat benommen hat.«
»Louis will angeblich die Beziehungen zu Neapel wiederaufnehmen. Ist das vielleicht der Grund für Eure Reise nach Amboise?«
Charles kam nicht dazu zu antworten. Ein schrecklicher Schrei entwand sich dem armen Pferd. Jean de
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