Die Seidenstickerin
»Dame de Rohan«, sehr gut voran. Längst hatte Alix alle Kniffe und Schwierigkeiten durchschaut. Und trotzdem war sie manchmal unsicher. In Kürze sollte der Fachmann kommen und die riesige Leinwand begutachten, um festzustellen, ob das Werk nach allen Regeln der Kunst angefertigt war, ehe es dem Käufer geliefert wurde. Alix befürchtete, irgendetwas könnte dazwischenkommen und der Prüfer könnte einen Fehler in ihrer Arbeit finden, obwohl sie so vollkommen wirkte. Und wieder schien ihr die »Dame de Rohan« wie eine heimliche Verbündete zuzuzwinkern und zu verstehen geben, das alles mit ihr in Ordnung war – außerdem beruhigte sie Jacquous aufmunterndes Lächeln.
Auf der gegenüberliegenden weiß gekalkten Wand hing eine sehr schön gelungene Reproduktion eines Mille Fleurs, eines dieser Teppiche aus sehr straff gewebtem Stoff mit üppigen und raffinierten Bildern in vielen Farben, die die Prinzen im Val de Loire sehr schätzten. Sie wurde von der Frühlingssonne angestrahlt, die durch ein großes Fenster fiel.
Alix seufzte schwer. Warum nur wollte ihr heute kein einziger Stich gelingen? Ein einziger hätte genügt, um ihre Seele von den düsteren Gedanken zu befreien, die sie überkommen hatten. Ein Stich, der zu dem nächsten und dann immer neuen geführt hätte.
Sie lächelte Jacquou an, der ihren Blick erwiderte. Mit einem Mal war ihr ganz schwer ums Herz, ohne dass sie wusste, warum. Sie nahm die Nadel in die plötzlich so ungeschickten Finger und suchte Jacquous Blick, aber der beschäftigte sich gerade mit einem Kettenfaden, der aus Auberts kleiner Litze gesprungen war. Also versuchte sie sich wieder in die komplizierten Mäander des verliebten vornehmen Herrn ihrer Dame zu vertiefen, an dem sie gerade arbeitete.
Doch da kam es zu dem lange erwarteten, gefürchteten Ereignis, und es war wie ein Unwetter, das über sie hereinbrach, eine Sintflut, wie der Weltuntergang! Die Tür öffnete sich, und Meister Coëtivy stand auf der Schwelle. Alix erkannte sofort, dass sie das Angriffsziel des Webers war. Seine vor Wut kalten Augen richteten sich auf sie – nur auf sie!
Sie sah ihn traurig an. Der Gedanke, dass sie mit Jacquou verheiratet war, machte ihr ein wenig Mut. Noch tapferer wurde sie, als sie sah, dass Jacquou auf sie zukam.
Jeder in der Werkstatt spürte, dass etwas nicht stimmte, so als wären alle Maschinen plötzlich stehen geblieben, obwohl sie doch weiterliefen. Meister Gauthier sah den Mann, den er zu kennen glaubte, überrascht an und hätte gern herausgefunden, was der Grund für seinen unvermittelten Zorn war.
Arnold war leichenblass geworden, und Aubert schlug sich plötzlich an die Stirn, weil er sich wieder an den Zornausbruch von Coëtivy vor mehr als zwei Jahren erinnerte, als er Meister Gauthier gesagt hatte, dass ein Mädchen Jacquou sprechen wollte. Aber natürlich, dieses Mädchen, dem er damals geraten hatte, sich hinter den Wollballen im Schuppen zu verstecken, war Alix! Sie war es wirklich! Warum hatte er sie nicht schon viel früher erkannt, wo sie jetzt doch schon seit drei Monaten mit ihm in dieser Werkstatt arbeitete? In Erwartung der heftigen Auseinandersetzung wischte er sich den Schweiß von der Stirn.
Coëtivy stand noch immer an der Tür und hatte den Blick auf Alix geheftet. Nun kam er langsam auf sie zu.
»Aha, du Miststück, ist es dir also doch gelungen, dich hier einzuschleichen!«
Jacquou trat zu Alix. Aus unerfindlichen Gründen hatte er vor Meister Coëtivy, den er respektierte, liebte und verehrte, seit er ein kleiner Junge war, keine Angst mehr. Mit einem Mal wirkte er auf ihn wie ein ganz normaler Mann, einer unter vielen. Er sah, wie Coëtivy mit dem Zeigefinger auf Alix deutete und sich an Gauthier wandte.
»Warum hast du dieses Mädchen eingestellt?«, fragte er mit vor Zorn bebender Stimme leise.
»Weil sie sehr gut arbeitet und ich Ersatz für Aliette gebraucht habe«, antwortete Gauthier.
»Aliette!«
»Ja. Sie arbeitet jetzt an Benoîtes Platz, die Arnaude ersetzt hat.«
Coëtivy hörte gar nicht mehr, was Gauthier noch ganz verdattert vorzubringen hatte:
»Arnaude kümmert sich um ihren kleinen Sohn. Sie kann nicht wieder bei uns arbeiten. Deshalb musste ich die Plätze der Frauen neu verteilen, Pierre.«
Jetzt endlich wandte Coëtivy, der Alix nicht aus den Augen ließ, sein zornesweißes Gesicht Gauthier zu.
»Das ist das Mädchen, das sich vor zwei Jahren im Schuppen versteckt hatte und das ich zu Meister Yann nach Nantes
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