Die Seidenstickerin
erbärmlich, scheinheilig und verlogen. Gott allein könnte Ordnung in diesen Wirrwarr gemeiner Gefühle bringen.«
»Ich habe aber schon erlebt …«
»Du lebst noch nicht lange, mein Kind. Dein Leben beginnt gerade erst.«
Aber Alix schüttelte eigensinnig den Kopf.
»Und wenn schon!«, widersprach sie. »Ich habe schon oft erlebt, dass mir Menschen helfen wollten, mich beraten und getröstet haben.«
»Trotzdem, Alix, das siehst du falsch. Auf euch allein gestellt würdet ihr an den Rand einer Gesellschaft gedrängt, in deren Mitte ihr euch aber meines Erachtens entwickeln sollt. Man darf sich nie zu den Schwächsten schlagen. Merk dir diese Ratschläge gut.«
Er stieß einen kleinen Seufzer aus, den das junge Mädchen vielleicht besser verstand als viele Worte, und fuhr fort:
»Was wollt ihr beide denn ganz allein und ohne Hilfe und ohne Unterstützung anfangen? Du darfst nicht vergessen, dass Jacquou niemals eine eigene Werkstatt aufmachen kann, wenn er kein Meisterstück bei der Gilde abliefert. Dann wäre er sein Leben lang einem Webermeister abgabepflichtig oder müsste gleich für einen anderen Meister arbeiten. Und was wird dann aus dir? Wo willst du dann das Weberhandwerk erlernen?«
Diesmal hatten Jeans Worte Alix endlich überzeugt. Sie nickte einsichtig und sah ihn mit ihren großen kastanienbraunen Augen an. Dann überlegte sie kurz und fragte ihn mit ängstlicher Stimme:
»Ist eine geheime Heirat denn eine richtige Heirat?«
»Ja, natürlich, wenn sie von einem Priester den Segen der Kirche bekommt.«
»Oder von einem Bischof? Oder einem Kardinal?«
Jean lachte vergnügt.
»Von einem Kardinal wirst du auch nicht besser verheiratet. Diese Aufgabe kann jeder Priester vornehmen.«
»Trotzdem«, beharrte Alix und war überzeugt, der hohe kirchliche Rang von Jean würde den Wert ihrer Ehe steigern.
Sie hielt dem Blick des Kardinals stand und zappelte nur ein bisschen auf der Bank herum.
»Und bei einer heimlichen Heirat gibt es später auch nicht irgendwelche Einschränkungen?«, fragte sie immer noch misstrauisch.
»Nein, selbstverständlich nicht.«
»Aber was ist denn dann der Unterschied zu einer richtigen Heirat?«
Da streckte Jean seine langen Beine aus, die er unter der Sitzbank in der Kutsche verstaut hatte, und lachte laut los.
»Meinst du vielleicht eine riesengroße Feier mit vielen Gästen, Lustbarkeiten, Spielen, Gelächter, Spaß und gutem Wein?«
»Ja, genau das meine ich.«
»Das ist auch nichts anderes, Alix. Durch das Band der Ehe werdet ihr in guten wie in schlechten Zeiten verbunden. Was auch immer geschieht, ihr dürft euch dann nicht mehr trennen.«
»Und?«
»Mit dem einzigen Unterschied, dass ihr nur insgeheim zusammen sein könnt, bis Jacquou seine Lizenz als Webermeister hat.«
»Das heißt, wir dürfen keinem etwas davon sagen!«
Jean de Villiers nickte. Dann ließ er endlich Alix’ Hand los und schob den Samtvorhang vor dem Fenster zur Seite, um zu sehen, wo sie waren.
»Aber später können wir das Geheimnis lüften, ohne Angst haben zu müssen?«
»Ich sagte es bereits, erst wenn Jacquou Webermeister ist. Du hast mir erzählt, dass du in ihn verliebt bist, seit du acht warst. Wenn ich mich nicht verrechnet habe, wartest du jetzt schon sechs Jahre auf ihn. Kannst du denn jetzt wirklich nicht noch sechs oder acht Monate warten, ehe du deine Liebe laut herausschreist?«
»Acht Monate!«
»Solange braucht er nun einmal, um nach Flandern zu reisen, seine Arbeit abzuliefern und zurückzukommen.«
»Ja, ich weiß. Er hat es mir gesagt.«
»Wenn ich euch verheiraten soll, müssen wir uns aber beeilen, damit uns Pierre de Coëtivy nicht unsere Pläne durchkreuzt.«
»Meint Ihr etwa, er will mich suchen und wieder wegbringen?«
»Nein, das würde ich nicht zulassen. Ich gebe auf dich acht, und das wird er auch erfahren. Deshalb wird er dir nichts tun, was mich verdrießen könnte. Aber er könnte Jacquou ohne noch länger zu warten nach Flandern mitnehmen, und dagegen könnte ich nichts unternehmen. Aber mach dir nur keine Sorgen, mein Plan ist sicher.«
Er ließ den Vorhang wieder vor das Fenster fallen. Dann sah er Alix an und sagte:
»Nachdem ich deine Arbeitszeiten kenne, werden wir zu deiner Freundin kommen und ihr alles erklären. Danach gehst du wie üblich zu Jacquou, verlässt aber sofort mit ihm zusammen das Haus, wobei ihr darauf achten müsst, dass seine Zimmervermieterin nichts mitbekommt.«
»Bis hierhin könnte das alles
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