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Die Seidenstickerin

Die Seidenstickerin

Titel: Die Seidenstickerin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jocelyne Godard
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liebte.
    Coëtivy konnte nicht mehr an sich halten.
    »Was hast du dazu zu sagen, Jacquou?«, fragte er und schäumte vor Wut.
    »Dazu kann ich nur sagen, dass Alix Recht hat, mein Meister.«
    Als sie merkte, dass Jacquou zu ihr hielt, platzte Alix erneut heraus – mittlerweile war sie dunkelrot angelaufen.
    »Wer seid Ihr denn, dass Ihr Euch solche Macht über ihn herausnehmt?«, schrie sie ihm ins Gesicht. »Sein Meister seid Ihr! Na und! Wie viele Schüler haben nicht schon einen Meister gehabt? Das heißt aber noch lange nicht, dass dieser Meister von seinem Lehrling die totale Unterwerfung verlangen darf, Gehorsamkeit in jeder Beziehung. Was soll das denn, Meister Coëtivy, wer soll Euch diesen Unsinn glauben? Wer seid Ihr denn, dass Ihr wie ein Tyrann über Jacquou bestimmen könnt?«
    Der verblüffte Gesichtsausdruck des Webers feuerte ihre Rachsucht noch an, und sie lächelte siegesgewiss.
    »Wer seid Ihr denn wirklich, Meister Coëtivy?«
    »Wer ich bin … Nun … Ich bin sein Vater.«
    Jacquou wurde aschfahl, und die Beine schienen ihm den Dienst zu versagen. Oh Gott! Mehr als zwölf Jahre hatte er auf diesen Satz gewartet. Und jetzt war er hin und her gerissen: Einerseits hätte er sich am liebsten in die Arme von Coëtivy geworfen, der es endlich und auch noch vor der kleinen Versammlung hier in der Werkstatt gewagt hatte, dieses große Geheimnis zu enthüllen; andererseits wollte er genauso gern Alix zum Dank dafür in die Arme nehmen, dass sie ihm diese Worte entrissen hatte, die so unglaublich wichtig für sein seelisches Gleichgewicht waren. Stattdessen tat er keines von beiden. Seine Gedanken verschwammen, verdunkelten sich, waren nur noch schwer zu erkennen. Plötzlich sah er sich im Chor einer Kathedrale wieder, der Kathedrale von Angers, wo er zum ersten Mal dieser schönen großen Frau begegnet war, die Isabelle de La Trémoille hieß.
    Jacquou war damals acht Jahre alt. Unter dem ungerührten Blick seines Herrn hatte ihm die Gräfin damals in sehr genau überlegten und äußerst behutsamen Worten erklärt, dass sie seine Halbschwester und Coëtivy sein Vater war.
    Jacquou hatte einige Sekunden gebraucht, um diese gewaltige Offenbarung zu begreifen und zugleich zu verstehen, dass sich sein Leben deshalb nicht ändern würde, dass sein Meister sein Meister blieb und Dame Bertrande weiterhin seine gütige und beschützende Gattin. Ein Geheimnis, das schwer auf ihm lastete und das er niemandem anvertrauen durfte.
    Jacquou durchlebte jede Sekunde dieses unvergesslichen Tages noch einmal, an dem Isabelle das Gespräch mit Meister Coëtivy in der großen Kirche fortgesetzt hatte, während er nach draußen geflüchtet war, um frische Luft zu schnappen und mit Tränen in den Augen all das zu verstehen versuchte, was er soeben erfahren hatte.
    Wie war es nur möglich, dass diese schöne blonde, engelsgleiche junge Frau, und er, der kleine Waisenjunge Jacquou, auf einmal ein und dieselbe Mutter hatten, die bei der letzten großen Pest gestorben war, als sie ihn eben zur Welt gebracht hatte? Wie war es möglich, dass Meister Coëtivy, »sein« Meister, der ihn erzogen hatte, ausbildete und auf das Handwerksleben als einer der bedeutendsten Teppichweber Europas vorbereitete, seine Mutter geliebt hatte, die Isabelle de La Trémoille Léonore nannte?
    Was für ein Schock für das Kind, das nicht mehr zwischen Vater und Lehrmeister unterscheiden konnte! Dabei hätte Dame Bertrande damals vielleicht sogar Verständnis gehabt, wenn er ihr die Wahrheit gestanden hätte, und den Jungen einfach angenommen, wie es sowieso ihrer Art entsprach, ohne groß zu fragen, und vielleicht wäre dann jetzt alles anders!
    Aber der Meister hatte sich hinter seinem Schweigen verschanzt und, ohne etwas zu sagen, die Erziehung seines Schülers mit aller dazugehörigen Strenge übernommen und ihm dazu noch freie Kost und Logis geboten.
    Alix sah Jacquou an, wie es in ihm arbeitete.
    »Aha, so ist das also!«, fuhr sie fort, und ihre Augen funkelten wütend, »heute kommt es Euch also gerade zupass, dass Ihr sein Vater seid, während Ihr das bislang immer vor der ganzen Gesellschaft verheimlicht habt, damit es Eurem Ruf als großem Meister nicht schadet.«
    Noch immer außer sich holte sie tief Luft und rief:
    »Ihr seid nicht mehr für Jacquou außer vielleicht sein Lehrmeister. Nichts! Er ist ein guter Schüler und hat Euch immer alle Ehre gemacht und Euer Geheimnis nicht einmal als Kind verraten. Er hat seine Schulden an Euch

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