Die Seidenweberin: Roman (German Edition)
vernichtenden Blick bedacht und das Haus verlassen, um nie wieder heimzukehren.
Tränen schlichen sich in Augustas Augen und verschleierten die schreckliche Szene. Kurz schüttelte sie den Kopf, um das Bild zu vertreiben, und fuhr fort: »Ich wusste nicht, was ich glauben sollte. Mein Mann war schließlich kein Verbrecher, doch ich selber nahm Peter das Versprechen ab, in dieser Angelegenheit zu schweigen, um seinen Vater nicht zu gefährden. Um meinetwillen willigte er ein, doch er kehrte der Familie den Rücken.« Ein leiser, fast nicht zu vernehmender Schluchzer fand den Weg durch ihren eisernen Panzer der Selbstbeherrschung, und sie flüsterte: »Ich habe ihn seitdem nicht wiedergesehen.«
Eine Weile schwiegen die Frauen. Die Dunkelheit kroch bereits aus den Ecken des Raumes hervor und breitete sich um die Säume ihrer Röcke aus.
»Was ist aus ihm geworden? Eurem Mann, meine ich?«, fragte Fygen.
»Er verließ kurz darauf die Stadt und ging auf eine Handelsreise nach Valencia. Doch er kam nie dort an und kehrte auch nicht zurück. Er gilt als tot, und wahrscheinlich ist er das auch.«
Tiefes Mitgefühl mit dieser alten, einsamen Dame überkam Fygen. Ein Gefühl, das fast schwerer wog als die Erleichterung darüber, dass sie nun die Gewissheit hatte, dass Peter der aufrechte, ehrliche Mann war, den sie kannte und liebte. Und dem sie bitter unrecht getan hatte, wie ihr schlagartig klar wurde. Der Gedanke trieb ihr die Schamesröte ins Gesicht. Wie sehr mussten Peter ihre Verdächtigungen und ihr Misstrauen verletzen? Fygen bedauerte sehr, dass diese Angelegenheit zwischen ihnen stand, nun da er so weit fort war. Am liebsten wollte sie ihn sofort um Vergebung bitten, doch leider würde sie damit auf seine Rückkehr warten müssen. Plötzlich schlich sich ein kleiner böser Gedanke in ihr Herz und machte ihr Angst: Was, wenn er wie sein Vater nicht zurückkehrte? Wenn ihm etwas zugestoßen wäre und sie nie die Gelegenheit erhalten würde, ihn um Verzeihung zu bitten?
Augusta regte sich und erhob sich ein wenig mühsam aus ihrem Sessel. Das Gespräch mit ihrer Schwiegertochter hatte sie Kraft gekostet, doch sie war erstaunt, wie gut es ihr getan hatte, Fygen diese Geschichte zu erzählen und sich von der Last der Wahrheit, die sie so viele Jahre mit sich herumgetragen hatte, wegen der sie sogar den einzigen Sohn verloren hatte, zu befreien.
Fygen beeilte sich, ebenfalls aufzustehen. Ihre Schwiegermutter schien sehr müde zu sein. Sie wirkte deutlich älter als zu Beginn ihres Gespräches, die Falten schienen tiefer, die Haut ein wenig matter. Doch als Fygen ihr zum Abschied die Hand drückte, entdeckte sie noch einen anderen, neuen Ausdruck auf Augustas Gesicht: Vertrauen? Erleichterung?
Fygen wandte sich zum Gehen, doch die alte Dame räusperte sich und hielt sie zurück: »Eine große Bitte hätte ich an dich, wenn du es erlaubst.«
Fygen hielt inne. »Selbstverständlich.«
Augusta lächelte ein wenig verlegen und sagte: »Wenn du und Peter, wenn ihr …« Sie verstummte. Ihre Hände gruben sich in die Falten ihres Rockes, und sie setzte von neuem an: »Ich meine, wenn, wenn … wenn ich Großmutter werde, darf ich es erfahren?«
Herzlich erwiderte Fygen ihr Lächeln und sagte ehrlich erfreut: »Mit der größten Freude. Ich gebe Euch mein Wort darauf, dass Ihr es sofort erfahrt.« Und noch einmal drückte sie ihrer Schwiegermutter die Hand.
Für den Heimweg benötigte Fygen nur knapp die Hälfte der Zeit. Sie bemerkte nicht einmal, wie ihr der Wind den Regen ins Gesicht schlug. Wenn ihr Mann nur bald heimkäme. »Verdammt, Peter Lützenkirchen!«, schimpfte sie so laut vor sich hin, dass sich eine ältere, gut gekleidete Dame auf der Straße nach ihr umdrehte und ihr einen pikierten Blick zuwarf. »Andere Kaufleute schicken ihre Faktoren auf Reisen und bleiben selbst zu Hause. Aber nein, mein Mann ist dafür ja viel zu abenteuerlustig«, haderte Fygen mit sich selbst. Doch in Wirklichkeit fühlte sie sich um so vieles leichter, als wäre eine erdrückende Last von ihr abgefallen. Beschwingt wie schon seit langem nicht mehr, betrat sie das Haus Zum Rosenbaum.
Hier musste sie jedoch feststellen, dass nicht jeder ihre gute Laune teilte. In der Halle schlug ihr dicker, grauer Rauch entgegen. Was, um Himmels willen, war hier geschehen? Brannte etwa das Haus? Es stank widerlich nach verbrannten Haaren, und Fygen vernahm bereits von weitem das aufgeregte Geschnatter von Maren. Sie drückte sich einen
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