Die Seidenweberin: Roman (German Edition)
deren Tiefe an die Oberfläche hinaufstiegen. Fygen spürte, wie sie sich vor Anspannung verkrampfte. Ihre Fingernägel hatten sich in die Handflächen gegraben, und die Knöchel waren weiß hervorgetreten. Als Augusta fortfuhr, öffnete sie die Fäuste und holte tief Luft für das, was ihr nun bevorstand.
»Soweit ich mich erinnere, reichte deinem Vater der Handel in Zons nicht aus, er war ihm nicht einträglich genug. Also versuchte er, auf neuen Wegen seine Geschäfte auszuweiten. Kern- und Angelpunkt seiner Idee war das Stapelrecht. Du weißt ja, wie es funktioniert. Jeder Händler, der mit seinen Waren über Köln reist, muss diese für drei Tage in der Stadt zum Kauf anbieten und kann nur mit den unverkäuflichen Resten dann weiterziehen. Das hat zur Folge, dass von manchen Waren aus dem Norden recht wenig bis nach Mainz gelangt, weil die Kölner sie vorher aufkaufen. Daher ist mit diesen Waren dort ein größerer Profit zu erzielen als in Köln. Also ersann dein Vater eine Methode, den Stapel zu umgehen. Er wandte sich an meinen Mann, der als kölnischer Bürger von der Verpflichtung zum Stapel befreit war. Dein Vater kaufte von meinem Mann, der auch im Fernhandel tätig war, eine Schiffsladung voller verschiedenster Waren, vornehmlich edelste Güter wie Schmuckstücke, Pelze, Silber, Gewürze und andere Kostbarkeiten, und man vereinbarte, dass mein Mann die Waren direkt nach Mainz lieferte. Dein Vater konnte eine solch wertvolle Fracht natürlich nicht im Voraus bezahlen, daher verpflichtete er sich zur Zahlung der Ware, sobald er sie in Mainz verkauft hatte. Bis dahin sollten seine Ländereien als Sicherheit dienen.« Augusta machte eine Pause und befeuchtete ihre immer noch vollen, von feinen Knitterfältchen umgebenen Lippen. »So weit waren die Vereinbarungen auch vertraglich festgelegt und niedergeschrieben. Als die Waren dann nach Köln kamen, ließ mein Mann sie auf einen Oberländer verladen und schickte sie den Rhein hinauf in Richtung Mainz.« Augusta seufzte und hob mit hilfloser Geste ihre schmalen Hände über den Kopf. »Doch der alte, klapprige Kahn soff kurz hinter dem Weißer Bogen ab. Mein Mann beharrte auf dem Standpunkt, an einem solchen Unglück träfe ihn kein Verschulden und die Ware, die untergegangen war, gehöre bereits deinem Vater, und er verlangte Bezahlung. Und der Rheinschiffer, den man vielleicht noch hätte belangen können, war mitsamt seinem Kahn ersoffen.«
Augusta unterbrach sich und griff nach ihrem Becher. Der Wein war bereits kalt geworden, doch sie bemerkte es nicht. Sie blickte Fygen offen an, als sie fortfuhr: »Wer tatsächlich den Verlust der Ware zu tragen hatte, vermag ich nicht zu sagen. Sicher war es nicht rechtens von meinem Mann, so starr auf seinem Standpunkt zu beharren. Doch deinen Vater selbst trifft ein Großteil der Schuld an seinem eigenen Ruin. Wer konnte denn ahnen, dass er so leichtsinnig war, für diesen einen Handel sein gesamtes Hab und Gut zu verpfänden? Natürlich konnte dein Vater die Waren nicht bezahlen, und so gingen die Ländereien in den Besitz meines Mannes über.« Augusta hatte ihre Stimme gesenkt und blickte Fygen fragend an. Hatte sie ihrer Schwiegertochter genug erzählt?
Unbeweglich, wie versteinert saß Fygen in ihrem Sessel und hatte jedes Wort in sich aufgenommen. Sie wusste, dass es noch nicht vorbei war. Noch hatte sie nicht alles erfahren, und am liebsten wäre ihr, sie bräuchte kein weiteres Wort mehr zu hören. Doch sie musste die Geschichte bis zu ihrem bitteren Ende erfahren. Kurz nickte sie Augusta zu, fortzufahren.
»Peter war der Auffassung, sein Vater habe den Vertrag nicht erfüllt, denn die untergegangenen Waren hätten sich noch in seinem Eigentum befunden. Er hielt die Sachlage für eindeutig und verachtete seinen Vater für dessen Handeln. Als wir kurz darauf vom Tod deines Vaters erfuhren, kam es zum Streit.« Der Blick der alten Dame glitt ins Leere.
Als wäre es gestern gewesen, vernahm Augusta den Widerhall von Peters Worten voller Empörung: »Wie praktisch«, hatte er gehöhnt. »Bellinghovens Tod kommt dir sicher sehr zupass. Er kommt fast ein wenig zu gelegen für einen Zufall. Es wäre ja auch übel, wenn du dich in der Angelegenheit vor dem Rat rechtfertigen müsstest.«
Wutentbrannt, mit vor Zorn rot angelaufenem Gesicht hatte sein Vater ihn daraufhin mit dem Handrücken ins Gesicht geschlagen. Ohne ein weiteres Wort hatte Peter sich das Blut von der Lippe gewischt, seinen Vater mit einem
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