Die Seidenweberin: Roman (German Edition)
geweckt, gefolgt von einem heftig ausgestoßenen wüsten Fluch. Eckert war sofort auf den Beinen und beeilte sich, eine Laterne zu entzünden. Im flackernden Licht erkannte Fygen, was geschehen war. Einer ihrer Mitreisenden, ein Weinhändler aus der Nähe von Mainz, dem der größte Teil der dickbauchigen Fässer Naheweines gehörte, das der Schiffer geladen hatte, schien ein dringendes, menschliches Bedürfnis verspürt zu haben. Doch die Erledigung einer Notdurft gestaltete sich an Bord des Schiffes ein wenig schwierig. Hierfür stand nämlich hinter einem Bretterverschlag ein Eimer bereit, auf den zur Bequemlichkeit ein Brett mit runder Öffnung gelegt wurde. Sei es, dass das Schiff an seiner Ankerkette ein wenig geschlingert hatte, sei es, dass der sonore Herr seinem eigenen Wein mehr zugesprochen hatte, als gut und ziemlich war, er bot einen ziemlich absurden Anblick, wie er so auf dem Schiffsboden in einer Lache übelster Exkremente lag. Es stank bestialisch, doch Fygen konnte nicht verhindern, dass sie über diese Groteske lachen musste. Für sich selbst beschloss sie, ihre Aufenthalte in dieser heimlichen Kammer unbedingt auf das Nötigste zu beschränken.
Die Sonne stand tief und zum Greifen nah über dem Horizont und übergoss die wundersame Schilflandschaft rechts und links des Flusses mit Purpur, als sich die Reisenden am Abend des folgenden Tages dem Ziel ihrer zweiten Etappe näherten. Nachdem sie am vergangenen Tag beinahe ausschließlich in Richtung Norden gefahren waren, hatte der Flusslauf des Rheines sie heute in großen Mäandern Richtung Westen geleitet. Und die Oude Maas, einer der Mündungsarme des Rheines, führte sie nun zielsicher auf Dordrecht zu, das wichtigste Handelszentrum Hollands.
Eine verzauberte Stimmung lag auf dem Wasser, und Fygen bedauerte sehr, dass Peter nicht an ihrer Seite war, um gemeinsam mit ihr diesen Anblick zu genießen. Fygen seufzte wehmütig. Erneut hatte sie ihren Platz an der Reling in der Nähe des hohen Buges eingenommen und atmete tief den frischen, salzigen Duft nach Meer ein, der hier, nur unweit der Küste, bereits in der Luft lag. Kreischende Möwen begleiteten das Schiff und jagten mit dem Wind tief über das Deck hinweg. Schicklichkeit hin oder her, mit einer raschen Bewegung zog Fygen sich ihre gestärkte Haube vom Kopf, um ihre Haare dem Wind zu überlassen, der ihr in das Gesicht blies und an ihrem schlichten, dunkelgrauen Rock zerrte. Und so sah Fygen auch als Erste die kleinen Häuser mit ihren spitzen Giebeln aus dem Wasser auftauchen. Wie saubere kleine Spielzeuge muteten sie an, adrett und frisch, und es schien, als stünden sie auf einer Insel. Doch der Schein trog. Dordrecht schmiegte sich in eine Flussgabel, die Oude Maas, Noord und Merwed bildeten. Diese Lage war es, die Dordrecht zur bedeutendsten Hafenstadt der Niederlande hatte werden lassen: von Wasserläufen umgeben und doch geschützt ein Stück von der Küste entfernt.
Über die Dächer der Häuser hinweg ragte ein mächtiger, kantiger Kirchturm. Er hatte keine Spitze, sondern wirkte wie ein einzelner, maroder Zahn, als sei er auf halber Höhe unordentlich abgebissen worden, und es schien Fygen sogar, als stünde er ein wenig schief.
Der Niederländer hielt geradewegs auf eine schmale Einfahrt zu, die sich am Ufer auftat und zwischen den Häusern hindurch in einen Hafen führte. Quer über die Einfahrt spannte sich eine hölzerne Brücke, die mit einigen Schnitzereien versehen war. Es war eine hübsche Brücke, aber dennoch versperrte sie ihnen den Weg. Das Schiff war viel zu hoch, als dass es unter der Brücke hätte hindurchfahren können, und Fygen fragte sich, ob sich der Schiffer in der Einfahrt geirrt hatte. Doch dann trat der Schiffer nach vorn zu ihr in den Bug, formte mit seinen großen, wettergegerbten Händen einen Trichter und rief etwas zur Brücke hinauf. Kurz darauf erschien oben auf der Brücke ein bärtiges Gesicht, das fröhlich eine Antwort rief und einen kleinen Korb an einer Leine herabließ. Der Schiffer warf ein paar Münzen in den Korb, der flugs wieder eingeholt wurde. Dann vernahm Fygen das knarrende Geräusch, das entsteht, wenn Taue gespannt werden. Eine Winde quietschte, und Fygen beobachtete fasziniert, wie sich langsam, ganz langsam die Brücke hob, bis ihre Planken in der Vertikalen standen.
Mit Rudern und Staken lotste nun die Besatzung das Schiff in das schmale Becken des Wijnhafens und vertäuten es fachgerecht an einem hölzernen Poller. Über
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