Die Seidenweberin: Roman (German Edition)
Straße hinaustrat. Mit ausgestrecktem Arm deutete er auf den klobigen, massiven Kirchturm. »Die Kirche ist im Jahre 1457 abgebrannt. Beim Wiederaufbau des Turmes hat man jedoch gravierende Fehler gemacht, die ihn in Schieflage geraten ließen. Und so mussten die Arbeiten in halber Höhe abgebrochen werden«, erklärt er. Fygen blickte hinauf. Hier, direkt am Fuß des Turmes stehend, konnte man seine Schieflage wirklich gut erkennen. Also hatte sie ihr Eindruck gestern bei ihrer Ankunft doch nicht getäuscht.
Wenig später erreichten sie den großen Hafen, von dem aus die mächtigen Segler, die nach England fuhren, ablegten, und gingen an Bord des Schiffes, zu dem Vornhuis ihnen den Weg wies. Wenn der Wind ihnen wohlgesinnt war, würde es sie in nur zwei Tagen über den Kanal hinweg nach London bringen.
Vornhuis hatte es für angeraten gehalten, dass Fygen ihre Identität vorerst für sich behielt, und sie dem Kapitän der Einfachheit halber als seine Nichte vorgestellt, womit er sich in Eckerts Augen Respekt verdiente. Und als das Schiff langsam den Hafen von Dordrecht verließ, stand der Hansekaufmann Vornhuis mit seiner Nichte an der Reling und blickte auf die kleiner werdende Stadt am Rheindelta zurück, auf die Hafenmole, an der sich die Wasser von Merwede, Oude Maas und Noord vereinigten.
»Die Stadt mutet wie eine Insel an, nicht wahr?«, bemerkte Fygen.
»Oh, sagt das nicht zu laut«, antwortete Vornhuis. »Die Einwohner von Dordrecht hören das gar nicht gerne. Es könnte erneut das große Unglück heraufbeschwören. Denn vor gut fünfzig Jahren hat die St.-Elisabeth-Flut, die große Teile Südhollands überschwemmte, Dordrecht in eine Insel verwandelt. Weite Landstriche und ein Großteil der Stadt standen unter Wasser. Das muss eine große Katastrophe gewesen sein.«
Solange sie sich noch im Schutz der Binnengewässer befanden, fühlte Fygen sich an Bord sehr wohl. Die Sonne schien, und ein kräftiger Wind schob Wolkenfetzen von der See her ins Land hinein und blähte machtvoll die Segel. Doch sobald sie den Schutz der Küste verlassen hatten und das Schiff auf der Dünung zu rollen begann, spürte Fygen zunehmend, dass sie nicht seefest war. Bevor sie sich jedoch die Blöße gab, sich vor den Augen der Mannschaft über die Reling zu hängen und sich ihres Frühstücks zu entledigen, eilte sie unter Deck und in ihre Kabine. Die beiden Tage der Überfahrt verbrachte sie in einem jämmerlichen Zustand zwischen Dämmern, Wachen und Leiden. Einziger Beistand war ihr ein Blecheimer, der alle paar Stunden von einem Schiffsjungen geleert wurde.
Erst als das Schiff in den frühen Morgenstunden des dritten Tages das ruhige Fahrwasser der Themse erreicht hatte, besserte sich Fygens Zustand. Sie wies den Schiffsjungen an, ihr frisches Wasser zu bringen, wusch sich Haare und Gesicht und bemühte sich, so gut es ging, ihre Kleidung in einen präsentablen Zustand zu versetzen. Es klopfte an der Kabinentür, und der Schiffsjunge richtete ihr aus, dass ihr Onkel sie an Deck erwarte.
»Meine Liebe, es wäre zu schade, wenn Ihr diesen Anblick verpassen würdet«, sagte er liebenswürdig und deutete auf das linke Ufer, an dem sich einzelne Gebäude aus den Nebelschwaden herausschälten. Noch ein wenig blass um die Nase, war Fygen gerade rechtzeitig erschienen, so dass Vornhuis ihr den Königspalast zeigen konnte. »Hier residieren die englischen Könige«, erklärte er. »Die Kirche, die dahinter aufragt, ist Westminster Abbey, die Krönungskirche der Könige.« Und ein wenig scherzhaft fügte er hinzu: »Daran bauen sie auch schon seit zwei Jahrhunderten, ich bin mal gespannt, was zuerst fertig ist: die Abbey oder Euer Dom.«
Ein wenig enttäuscht blickt Fygen auf das westliche Münster und den Königssitz. Mauern umgaben einen Teil von Kirche und Palast, bewacht von Türmen und Toren. Daran schlossen sich weitere Gebäude und eine geringe Anzahl von Häusern an. Das war alles? Sollte das London sein? Eine Stadt, so berühmt und mächtig wie Köln?
Nun folgte das Schiff einer scharfen Biegung nach rechts, und kaum hatten sie das Flussknie der Themse umrundet, sah Fygen ihren Irrtum ein. Wunderschön und prächtig lag die Stadt am Ufer der Themse vor ihnen. Und als wolle die Stadt Fygen mit ihrer Macht und Pracht besonders beeindrucken, stachen lange, orangefarbene Finger aus Morgensonne durch den Nebel und tauchten sie in ein unwirkliches Licht. Ein Meer von Häusern und Dächern mit unzähligen, wie Nadeln
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