Die Seidenweberin: Roman (German Edition)
Fygen hinter dem Kleinen die schmierigen Treppen hinauf und folgte ihm in den weitläufigen Senatssaal. Hier, wo sich gewöhnlich die Bürgermeister mit den Ratsherren zu ihren Beratungen trafen, hatte sich seltsames Volk versammelt. Arbeiter und Tagelöhner, aber auch ein paar Handwerkergesellen lümmelten trunken auf den verzierten Bänken, auf denen gewöhnlich die hohen Herren bei ihren Sitzungen Platz nahmen. Anscheinend hatten sie im Keller den Ratswein entdeckt und sich daran gütlich getan. Die Ratsherren erhielten für ihre Anwesenheit bei den Sitzungen, dreimal pro Woche, den sogenannten Ratsheller, eine Silbermünze, die sie im Ratskeller gegen zwei Quart guten Weines eintauschen konnten.
Mattes Dämmerlicht fiel durch die hohen Fenster herein, und eben entzündete man die ersten Fackeln. Während sie dem Kleinen zum gegenüberliegenden Ende des Saales folgte, versuchte Fygen die Gesichter der Versammelten zu erkennen, um herauszufinden, ob sich Herman, wie sie vermutet hatte, unter ihnen befand. An der Kopfseite des Saales waren die Bänke für die Bürgermeister aufgestellt. Doch diejenigen, denen diese Sitze eigentlich zustanden, konnte Fygen nirgends sehen, vermutlich hatte man sie gut bewacht in das Untergeschoss gebracht, wo sich auch die Rentkammer befand.
Der Gürtelmacher Hemmersbach spazierte vor den Bänken wichtigtuerisch auf und ab, eine Hand in die Hüfte gestemmt, in der anderen immer noch seinen lächerlichen weißen Holzstab schwenkend. Als er Fygens ansichtig wurde, blies er mächtig die Backen auf, reckte die Brust vor und warf sich in Positur. Jetzt, wo er Fygen direkt gegenüberstand, kam er ihr deutlich kleiner vor, als er gestern auf dem Balkon des Rathauses gewirkt hatte. Gerade so groß wie sie war er, von stämmiger Statur, und hatte einen großen, runden Kopf mit dazu passenden ebenfalls runden Augen. Unter den Fleischern wäre er passender aufgehoben als unter den Gürtelmachern, schoss es Fygen durch den Kopf.
Der Gürtelmacher ließ einen abschätzenden, schon beinahe anzüglichen Blick über ihr Gesicht, dann über ihren Körper gleiten, mit einer Miene, als wundere er sich, welch wundersame Dinge ihm als Stadtherrn geboten wurden.
Fygen musste mühsam an sich halten, um diesem impertinenten Wüstling nicht geradewegs ins Gesicht zu schlagen.
»Oho, wen haben wir denn da? Guten Tag, meine Hübsche, sicher möchtest du mit uns feiern«, sprach Hemmersbach sie an, und angewidert erkannte Fygen die unappetitlichen, braun verfärbten Zähne in seinem Mund. Herablassend hielt er ihr die Hand hin, als erwarte er, dass sie diese zum Kuss ergreifen würde, was er für die angemessene Begrüßung dem neuen Stadtherrn gegenüber hielt. Fygen barst schier vor Zorn. Zorn auf diesen selbstherrlichen Wicht, Zorn auf ihren Sohn, dass er sie in diese erniedrigende Lage hatte bringen müssen. Ihre Augen nahmen die Farbe von Phosphor an, und auf ihrem Hals erschienen rote Flecken. Dennoch bemühte sie sich angestrengt, sich ihre Wut nicht anmerken zu lassen, und deutete einen Knicks an, ohne jedoch Hemmersbachs schmutzige Rechte zu ergreifen. Was war dieser Mann doch für eine Witzfigur, dachte sie.
»Bringt der Dame einen Krug Wein«, befahl er.
»Das ist zu gütig, doch kann ich leider nicht bleiben. Ich suche meinen Sohn. Er wollte sich Euch anschließen. Doch das Rathaus ist kein Ort für einen Elfjährigen. Um diese Zeit gehört er nach Hause und ins Bett!«
»So, nun, schade!« Bedauern zeigte sich auf Hemmersbachs Miene. »Aber da habt Ihr wohl recht!«, sagte er, und Fygen registrierte, dass er ihr nun, da ihre Rolle als Mutter geklärt war, den entsprechenden Respekt erwies. Doch sein Gesicht verriet auch Unsicherheit. Fygen spürte, dass er nicht recht wusste, was nun von ihm erwartet wurde.
»Vielleicht könnt Ihr so freundlich sein, ihn rufen zu lassen«, schlug sie vor.
»Ja, eine gute Idee.« Er holte Luft, doch dann fiel ihm ein, dass er ja gar nicht wusste, nach wem er brüllen wollte. Also ließ er die Luft aus seinen Lungen wieder zischend entweichen und fragte: »Wie heißt er denn?«
»Herman«, antwortete Fygen. Seinen Nachnamen verschwieg sie vorsichtshalber, man konnte nicht wissen, ob der Name Lützenkirchen den Anwesenden bekannt war. Stand er doch für genau jene Dinge, gegen welche die Aufständischen sich aufgelehnt hatten. Peter hatte einen guten Ruf in den Gaffeln und war für seine Treue zum Rat bekannt. Es war nur eine Frage der Zeit, wann er selbst
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