Die Seidenweberin: Roman (German Edition)
einen oder anderen Schankwirt dazu überreden zu können, ihnen Tore und Keller zu öffnen. Trommeln, Pfeifen und Rasseln erklangen.
Fygen kletterte auf einen Trittstein vor einem Haus, um den Platz besser überblicken zu können. Fieberhaft hielt sie Ausschau nach ihrem Sohn, suchte methodisch den Platz ab, schaute in bunte Masken und in gerötete Gesichter. Ein paar Mal meinte sie, Herman entdeckt zu haben, doch immer wieder entzog er sich ihrem Blick. Dann endlich erkannte sie seinen Blondschopf in der Menge. Ausgelassen hopste der Elfjährige hinter einem Flötenspieler in gelbem Umhang einher. Seine blauen Augen strahlten, und fröhliche, rote Flecken auf den blassen Wangen zeugten von seiner Begeisterung. Rasch sprang Fygen von dem Trittstein herunter, und so schnell es die erhitzten, drängelnden Leiber vor ihr erlaubten, bahnte sie sich ihren Weg zu ihm. Mit einem erstickten Schluchzer der Erleichterung schloss sie Herman in die Arme, doch bereits im nächsten Moment zwang sie sich, ihn wieder freizugeben, denn zunächst einmal galt es, sie beide in Sicherheit zu bringen. Mit fester Hand packte sie den Jungen beim Ärmel und zerrte ihn hinter sich her. Weg, heraus aus diesem Gedränge, nur fort von diesem Platz, der wie ein Kessel war, denn die Gefahr war noch nicht gebannt. Jeden Moment konnte die Stimmung auf dem Platz umschlagen. Zudem musste man damit rechnen, dass ratstreue Bürger zu den Waffen greifen würden, um das Rathaus zurückzuerobern.
»Aber Mutter, ich muss noch bleiben«, protestierte Herman inständig. »Wir haben doch jetzt die Macht übernommen.«
Fygen wandte sich zu ihm um. »Wir haben die Macht übernommen?«, wiederholte sie verblüfft und blickte ihn erstaunt an.
»Ja, jetzt bekommen alle wieder genug Brot und Wein, und keiner muss mehr hungern und zu viel arbeiten«, erklärte Herman ihr begeistert und strahlte sie an. »Ist das nicht schön?«
Nicht eine Sekunde lang schien er sich der Gefahr bewusst gewesen zu sein, in der er sich befunden hatte, erkannte Fygen. Ihre Erleichterung darüber, Herman lebendig und unversehrt wiedergefunden zu haben, drohte in Ärger umzuschlagen. Einen Moment lang war sie versucht, ihrem Sohn gehörig die Ohren langzuziehen, ihn zu fragen, wie er so leichtsinnig hatte sein können, einfach allein in der Stadt umherzulaufen. Doch sie wusste, es hatte keinen Zweck, ihn zur Rede zu stellen. Herman tat solche Dinge nicht mit Absicht. Es war einfach sein Schicksal, immer wieder in Unannehmlichkeiten zu geraten, die anderen Kindern nie widerfahren würden.
Sie packte Herman fester bei der Hand und zog den Protestierenden unerbittlich hinter sich her. So schnell es der zerfurchte gefrorene Boden erlaubte, eilte sie mit ihm die Judengasse, dann die Obermarspforte entlang, und erst als sie in Sichtweite ihres Hauses kamen, verlangsamte sie ein wenig ihren Schritt.
3. Kapitel
J etzt reicht es!«, rief Fygen zornig, warf den Federkiel auf das Blatt und hieb mit der Hand auf ihr Pult. Es war bereits später Nachmittag an diesem Fastnachtsdienstag, und sie war gerade dabei, die Ausgaben der letzten beiden Wochen zusammenzustellen, als Lijse ihr Kontor betrat und ihr eröffnete, dass Herman anscheinend schon wieder das Weite gesucht hatte. Grollend eilte sie den Flur entlang, griff ihren Umhang vom Haken und warf ihn sich um die Schultern. Anders als am Vortag hatte sie heute eine Ahnung, wo sie ihren Ältesten finden konnte, und so dauerte es nicht lange, bis sie vor den Toren des Rathauses anlangte. Breitbeinig aufgepflanzt vertrat ihr dort ein bärtiger, wenig vertrauenerweckender Bursche den Weg. Zunächst musterte er sie misstrauisch von oben bis unten, doch er musste zu dem Schluss gekommen sein, dass sie harmlos sei, denn schließlich fragte er sie herablassend nach ihrem Begehr.
Na, warte, Bürschchen, dachte Fygen sich. Ihr werdet nicht lange Freude an eurem Tun haben, so viel ist sicher. »Ich bin auf der Suche nach meinem Sohn«, erklärte sie, dennoch um Freundlichkeit bemüht. »Vielleicht habt Ihr ihn gesehen. Er ist erst elf, blond, recht groß für sein Alter. Er sagte, er wolle zu Gürtelmacher Hemmersbach gehen«, log Fygen drauflos.
Wortlos zog der Bärtige seine buschigen Augenbrauen zu einem noch grimmigeren Blick zusammen. Dann bellte er kurz einen kleinen, dicklichen Mann an, der ein wenig abseits an der Wand lehnte: »Bring sie rauf!«
Vorsichtig, um nicht auf dem feuchten Unrat auszurutschen, der überall verstreut lag, stieg
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