Die Seidenweberin: Roman (German Edition)
bedeuten, denn es war ein gewöhnlicher Mittwoch, und Herman sollte um diese Zeit bei seinem Lehrherrn Mertyn sein.
»Was machst du denn hier«, fragte er ein wenig brummiger als beabsichtigt.
Herman merkte, dass es wohl keinen schlechteren Moment für sein Anliegen geben konnte, doch daran war nun nichts mehr zu ändern. Mutig fragte er: »Vater, kann ich nicht bei dir weiterlernen?«
»Was hast du angestellt? Hat Mertyn dich etwa hinausgeworfen?«
»Nein, das nicht.« Herman verstummte.
Zu Beginn hatte Herman gerne bei Mertyn gearbeitet. Aber sein Lehrherr hatte sich verändert. Er war nicht mehr so fröhlich wie früher. In letzter Zeit konnte er urplötzlich wegen Nichtigkeiten aus der Haut fahren und zum Rohrstock greifen, um seinen Lehrjungen zu züchtigen.
Zu Hermans Pflichten gehörte es, jeden Tag zum Hafen hinunterzugehen und zu schauen, ob ein Schiff eingetroffen war, das Waren für Mertyn an Bord hatte. Wenn dies der Fall war, hatte er genauestens das Abladen zu überwachen, um sicherzugehen, dass die Lieferung mit der Bestellung übereinstimmte. Er musste prüfen, ob die Waren in ordnungsgemäßen Zustand eintrafen, und darauf achten, dass der städtische Schreiber die rechte Anzahl der gelieferten Güter vermerkte, bevor sie in eines der Lagerhäuser am Rheinufer gebracht wurden.
Herman liebte diese Aufgabe, denn er genoss das lebhafte Treiben am Fluss, den Geruch nach Wasser, Schlick und Teer. Und jeden Tag gönnte er sich einen kleinen Moment, in dem er es sich erlaubte, sich auf einen Stein zu setzen und dem Wasser zuzusehen, wie es dem Meer zuströmte, und den Wolken, die sich im Osten verloren, auf der Schääl Sick, der blinden Seite, wie die Kölnischen die rechte Rheinseite ein wenig abfällig nannten. Der Ausdruck stammte von den Treidelpferden, die ihre Last nur auf der kölnischen Seite stromaufwärts ziehen konnten, da am Deutzer Ufer Untiefen den Treideltransport vereitelten. Damit die Pferde nicht von der Morgensonne, die über dem östlichen Ufer aufging, geblendet wurden und fehltraten, verband man ihnen das linke Auge.
Heute Morgen nun waren gleich zwei Niederländer mit Waren für Mertyn angekommen, und Herman hatte zunächst das Entladen des einen Schiffes überwacht. Als er dann endlich bei dem anderen Schiff anlangte, waren Mertyns Waren schon durch den Schreiber aufgenommen worden und befanden sich bereits auf dem Weg ins Lagerhaus, ohne dass Herman sie hatte überprüfen können. Es ging bereits auf Mittag zu, und so beschloss der Junge, zunächst die Frachtpapiere des ersten Schiffes bei Mertyn abzuliefern, bei der Gelegenheit eine Kleinigkeit zu essen und danach in das Lagerhaus zu gehen und die Ware dort zu überprüfen. Doch als er Mertyn berichtete, dass er die Ware des zweiten Schiffes nicht bereits beim Ausladen hatte kontrollieren können, dies aber gleich nachzuholen gedenke, bekam dieser einen Zornesanfall, wie Herman ihn noch nie erlebt hatte. Wutentbrannt griff Mertyn nach einer Weidenrute und riss mit einer einzigen groben Bewegung Herman das Hemd vom Leib. Dann holte er aus. Wieder und wieder ließ er die Rute auf den Rücken des Jungen niedersausen. Herman biss sich in die Hand, um nicht zu schreien. Tief grub die Rute sich in die Haut, wieder und immer wieder. Hermans Rücken stand in Flammen, und er drohte das Bewusstsein zu verlieren. Einzig Katryns Eingreifen war es zu verdanken gewesen, dass Mertyn schließlich von ihm abließ, dachte Herman. Doch wie sollte er das alles seinem Vater erklären?
»Was ist, hast du die Sprache verloren?« Peters Geduld war beinahe am Ende. Doch dann sah er, dass Hermans blaue Augen sich mit Tränen füllten. Ohne eine Antwort zog der Junge sein Hemd über den Kopf und wandte Peter den zerschundenen Rücken zu.
Peter erstarrte. Schwer ließ er sich in den Sessel hinter seinem Tisch fallen. »Erzähl mir, was geschehen ist«, sagte er tonlos. Zunächst zögerlich, doch dann sprudelten die ganze Not und der Kummer des Fünfzehnjährigen in einem einzigen unaufhaltsamen Schwall hervor.
Peter schwieg eine ganze Weile, als Herman geendet hatte. Der Junge hatte recht: Mertyn hatte sich verändert.
»Nun, jetzt wo ich im Rat sitze, könnte ich schon deine Hilfe im Geschäft brauchen«, sagte Peter bedächtig. »Ich rede morgen mit Mertyn. Geh zu deiner Mutter und sag ihr, sie soll dir deine Kammer herrichten lassen.«
Doch Herman konnte seine Mutter weder im Haus noch in der Werkstatt finden, denn Fygen saß derweil bei
Weitere Kostenlose Bücher