Die Seidenweberin: Roman (German Edition)
einem großen, breitschultrigen Mann vorbei, ein Kaufmann, wie es schien. Seine erdfarbene Schappe und das braune Wams darunter waren schlicht, doch sichtlich aus gutem Tuch, und die ledernen Beinlinge waren sauber und gut geschnitten. Er trug keine Kappe, und der morgendliche Wind wehte ihm eine sonnengebleichte Stirnfranse in das vom Wetter gebräunte Gesicht. Kurz traf Fygen ein Blick aus strahlenden, ein wenig zu blauen Augen, die von einem Kranz winziger Fältchen gerahmt wurden. Seine unordentliche Frisur bildete einen charmanten Gegensatz zu der ansonsten betont gepflegten Erscheinung und ließ ihn jugendlicher erscheinen, als er sicher war, befand Fygen.
Ein Stück entfernt im Vorschiff fand Fygen endlich ein freies Fleckchen zwischen einer ordentlich aufgeschossenen Taurolle und einem großen, in grobes Leinentuch eingeschlagenen und gut verschnürten Bündel. Aufatmend ließ sie sich auf den groben Holzplanken niedersinken. Sie lehnte ihr Bündel seitlich an die Taurolle und machte es sich, so gut es ging, bequem.
An Bord war es ruhig geworden, die Pferde zogen gleichmütig ihre ungeliebte Last durch die flache Landschaft, vorbei an taufeuchten Wiesen und schütteren, ausgefransten Buchenhainen. Fedriger Morgennebel schwebte dicht über dem Wasser und würde bald von der aufsteigenden Sonne aufgesogen werden. Es versprach ein heißer Tag zu werden, doch noch kühlte ein leichter Wind Fygens erhitztes Gesicht und spielte mit einer vorwitzigen Locke, die ihr aus einem Zopf geschlüpft war. Fygen rutschte ein wenig auf den harten Holzplanken umher, bis sie eine Stelle gefunden hatte, an der sie sich bequem an die Reling lehnen konnte. Unter sich spürte sie das sanfte Schlingern des Schiffes. Es war nicht unangenehm, doch es verstärkte das Gefühl der Unwirklichkeit, das sie beschlichen hatte, seit sie das Haus ihres Onkels verlassen hatte. Es war nicht sie, die hier auf diesem Schiff saß, um in die große fremde Stadt zu reisen. Das konnte gar nicht sie sein. Sie lag zu dieser frühen Morgenstunde noch unter dem weichen Federbett in ihrer kleinen Kammer unter dem Dach, und gleich würde Lijse sie wecken und zur Eile antreiben. Schließlich müsse die Küche gefegt und das Frühstück bereitet werden. Lijse würde laut mit den Trappen auf der Stiege herumpoltern und an ihre Kammertür klopfen, so wie sie es jeden Morgen tat. Jeden Morgen, außer gestern. Denn gestern Morgen war Lijse nach dem Anklopfen in Fygens Zimmer gekommen und hatte sich zu ihr auf das Bett gesetzt. Fygen war noch zu verschlafen, um zu bemerken, wie bedrückt Lijse war, doch wie gewohnt redete die Haushälterin nicht um den heißen Brei herum. »Fygen, Kind, wach auf, ich habe mit dir zu sprechen.«
»Was ist denn? Was ist los?«
»Hör mir gut zu. Du gehst nach Köln, um das Seidenhandwerk zu erlernen.« Nervös zerknüllte Lijse ihre makellos gestärkte Schürze.
»Was? Wieso? Ich verstehe das nicht. Ich bin doch gerne hier bei dir. In Köln kenne ich doch niemand. Wo soll ich denn da hin?« Schlaftrunken wischte Fygen sich über die Augen.
»Dein Oheim hat für dich eine Lehrherrin gefunden. Die alte Mettel, eine Base von Mathys, ist Seidmacherin. Sie hat sich bereit erklärt, dich als Lehrtochter in ihr Haus aufzunehmen. Dort wirst du es sicher gut haben«, fügte Lijse mit einem aufmunternden Lächeln hinzu und strich sich fahrig die Schürze glatt.
»Nach Köln? Was soll ich da? Ich will nicht nach Köln. Ich will …« Voller Empörung drohte Fygens Stimme sich zu überschlagen.
»Steh auf und zieh dich an«, schnitt Lijse ihr rauh das Wort ab, erhob sich abrupt und wandte sich ab, damit Fygen nicht sehen konnte, wie schwer ihr die nächsten Worte fielen. »Du musst noch heute deine Sachen packen.«
Seit diesem Moment hatte sich alles überschlagen. Der Onkel hatte dafür gesorgt, dass sie auf dem nächsten Schiff Platz fand, das auf seinem Weg den Rhein hinauf in Zons anlegte. Und das fuhr bereits früh am nächsten Morgen.
Lijse ließ Fygen und sich keine Zeit für Traurigkeit und Abschiedsschmerz. Den ganzen Tag hetzte sie das Mädchen durch das Haus, denn eine Menge Arbeit war zu erledigen. Fygens gutes Kleid und ein Teil der Leibwäsche mussten gewaschen und geplättet, die Schuhe geputzt und zuletzt das Bündel geschnürt werden. Todmüde fiel Fygen an ihrem letzten Abend im Hause ihres Onkels ins Bett. Zu müde, um darüber nachzudenken, was in den letzten Stunden geschehen war, geschweige denn darüber, was die
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