Die Seidenweberin: Roman (German Edition)
hinaustraten. Die Schweine und Hunde hatten sich in den Schatten verzogen und dösten vor sich hin, fauliger Gestank hing in den Gassen und auf dem Pflaster.
Sie gingen die Gasse entlang in Richtung des Heumarktes, an der öffentlichen Seidwaage vorbei, einer städtische Waage, an der die Seidenhändler ihre Rohseidenkäufe tätigten. Das breite Ende der Gasse Unter Seidmacher öffnete sich auf den großen Heumarkt, gerade an der Stelle, wo sich an seinem Nordende der Alte Markt anschloss. Hier bogen die Mädchen rechts ab in eine Gasse, die sich an der Westseite des Heumarktes entlangzog. Sie wurde gesäumt von Gaddemen, kleinen, eingeschossigen Verkaufsbuden, in denen die Gewandschneider ihre Tuche zum Kauf feilboten und die der Gasse den Namen gaben: Unter Gaddemen. Die meist hölzernen Häuschen nahmen die ganze Breite des dahinterliegenden Wohnhauses ein und waren zur Gasse hin mit einer Verkaufslade versehen, die vollständig zu öffnen war. Neugierig spähte Fygen in die Auslagen und konnte sich an den bunten Farben der Tuche kaum sattsehen. Die Tuchhändler selbst hatten sich tief in ihre Gaddemen zurückgezogen, manche ließen sogar die Läden herab, um ihre kostbaren Stoffe gegen die Mittagssonne zu schützen.
»Los, komm schon«, drängelte Sewis, und Fygen fasste ihre Seidenballen fester, damit sie ihr nicht aus den Händen rutschten. Der Weg bis zu den Streichgaddemen war nicht weit, doch mit jedem Schritt, den die Mädchen zurücklegten, schienen die Ballen an Gewicht zuzunehmen. Endlich erreichten sie ihr Ziel: Mitten im Eingang zu den Tuchkammern standen die Bänke der Stelrever. Aufatmend lud Sewis ihre Last auf einer der Bänke ab. Fygen tat es ihr gleich und konnte kurz darauf beobachten, wie ein gesetzt wirkender Herr einen ihrer Seidenballen vollständig abwickelte und sorgfältig ausbreitete. Mit geübten Händen strich er die Seide glatt – daher der Name Streichgaddemen – und überprüfte sie gewissenhaft auf Fehler hin. Dann griff er zu einer geeichten hölzernen Elle, vermaß das Stück Stoff genauestens und vermerkte die Maße auf dem Tuchende. Zu guter Letzt setzte er sein Siegel darunter. Die schwere blasse Seide wurde wieder aufgewickelt, und der Stelrever nahm sich den nächsten Ballen vor.
»Ist die Seide jetzt verkauft worden?«, wollte Fygen von Sewis wissen und erntete einen erstaunten Blick.
»Du weißt aber auch gar nichts, oder?«, fragte Sewis und verzog spöttisch ihr keckes Gesicht. Herablassend erklärte sie Fygen das Prozedere: »Die Seidmacherinnen kaufen die Rohseide an der Seidwaage und bringen sie zu den Seidspinnerinnen. Die verarbeiten die Rohseide zu Seidengarn. Aus den Garnen weben die Seidmacherinnen die Stoffe. Hier in den Streichgaddemen werden sie gemessen und gestempelt, damit sich nachher keiner einfach ein Stück abschneiden kann. Erst dann werden sie von den Seidfärbern im Stück gefärbt, denn es ist bei Strafe verboten, ungestempeltes Tuch zu färben.«
»Das heißt, wir bringen die Stoffe jetzt zu den Färbern«, stellte Fygen fest.
»Bist du verrückt? Die haben ihre Häuser in der Pfarre St. Peter. Du glaubst doch nicht, dass ich bei der Hitze mit den Ballen durch die halbe Stadt laufe!«
Wenig später befanden sich die Mädchen mit ihrer Last wieder auf dem Heimweg. Kurz bevor sie links in die Gasse Unter Seidmacher einbogen, deutete Sewis quer über den Heumarkt. »Siehst du die Häuserzeile am Ende des Marktes?«
Fygen blickte über die Marktstände, Buden, Tische und Kisten, auf denen die Händler ihre Produkte, meist Lederwaren, feilboten, hinweg in die angegebene Richtung. Schmale Fachwerkgiebel bezeichneten das östliche Ende des Platzes.
»Da, Unter Riemenschneider, ist das Seidenkaufhaus, wo die fertige Seide dann letztlich verkauft wird«, erklärte Sewis, und Fygen hätte zu gerne den kleinen Umweg gemacht, um das Kaufhaus anzusehen. Was musste das für ein großartiger Anblick sein, Ballen über Ballen gestapelte Seide. In den wundervollsten Farben glänzend und schimmernd, ein Stapel neben dem anderen bis hoch zur Decke hinauf. Fragend blickte sie Sewis an, doch die schüttelte den Kopf und bog links in die Gasse ein. Schade, dachte Fygen und nahm sich fest vor, das Seidenkaufhaus anzuschauen, sobald sich dafür eine Gelegenheit bieten würde.
An der Seidwaage hielt Fygen ihre Begleiterin dann doch einen Moment zurück, als sie sah, wie eine wohlbeleibte, gut gekleidete Seidmacherin in Begleitung zweier ihrer Lehrmädchen
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