Die Seidenweberin: Roman (German Edition)
wohnt. Ich soll bei ihr in die Lehre gehen.«
»Eine Frau namens Mettel Elner kenne ich leider nicht, mein Kind«, antwortete der Ältere freundlich und wollte schon das Gespräch wieder aufnehmen, als der Jüngere, scheinbar sein Sohn, denn er hatte das gleiche rundliche Gesicht mit Ansätzen zu Tränensäcken, das Wort an sie richtete: »Was willst du denn lernen, Kleine?«
»Ich werde Seidweberin«, antwortete Fygen stolz.
»Na, dann wird es wohl das Beste sein, du gehst dorthin, wo die Seidmacher ihre Häuser haben, Unter Seidmacher«, riet er und deutete in westliche Richtung, wo eine Straße auf den Marktplatz mündete. »Da entlang, links an der städtischen Waage vorbei. Wenn du zu weit rechts gehst, dann riechst du es von selber, denn da haben die Kürschner ihre Werkstätten. In der Gasse fragst du dann noch einmal jemanden, wie das Haus deiner Lehrherrin heißt.«
»Danke.« Fygen knickste wieder. »Vielen Dank«, sagte sie und eilte in die Richtung, die der junge Herr gewiesen hatte.
Die Gasse Unter Seidmacher, die im vorderen Bereich auf Höhe des Marktes sehr breit war und von großen, schönen Häusern gesäumt wurde, verengte sich zusehends. Zögerlich ging Fygen tiefer in die Gasse hinein, auf der Suche nach jemandem, der ihr Mettels Haus, ihr zukünftiges Zuhause, zeigen könnte. Ob es wohl eines der großen Häuser mit den vielen Fenstern war? Mathys’ Base musste doch sicherlich eine wohlhabende Frau sein, vermutete sie. Es dämmerte schon leicht, und hier im hinteren Teil standen die schlichteren Häuser dicht aneinandergedrängt und ließen nur mehr wenig vom verbleibenden Tageslicht in die Gasse hineinsickern. Plötzlich quiekte es laut und durchdringend direkt neben ihr, und Fygen schrak zusammen. Etwas Großes sprang auf und rammte Fygen grob in die Seite. Um ein Haar wäre sie unter der Wucht des Stoßes gefallen, doch sie konnte sich gerade noch auf den Beinen halten. Brummelnd und grunzend zog das Etwas von dannen. Fygen brauchte einige Sekunden, um sich von dem Schreck zu erholen und zu erkennen, dass es nur ein großes Schwein war, das sich bereits neben einem Abfallhaufen zur Nachtruhe begeben hatte.
Fygen vernahm ein Kichern und musste feststellen, dass ihre Episode mit dem Schwein nicht unbemerkt geblieben war. Sie wandte den Kopf in die Richtung, aus der das Kichern gekommen war, und sah ein kleines Mädchen auf der Schwelle vor einem Haus sitzen.
»Kannst du mir sagen, wo die Mettel Elner wohnt?«, rief sie der Kleinen zu.
»Kommt drauf an«, war die patzige Antwort.
»Worauf?«, wollte Fygen wissen.
»Was du von ihr willst«, erwiderte die Göre neugierig.
»Ich gehe bei ihr in die Lehre«, erklärte Fygen ihr.
»Ach so«, antwortete die Kleine gelangweilt. »Da drüben, das ist das Elnersche Haus«, sagte sie und deutete auf ein unansehnliches, schmuckloses Haus, das fast am Ende der Gasse stand. Das Erdgeschoss des Hauses war aus Stein gemauert. Darüber bildeten dicke, verwitterte Balken, die längst eines neuen Anstriches bedurften, die Obergeschosse. Die Fächer zwischen den Balken waren mit Reisig und Lehm gefüllt und verputzt, doch auch der Putz war rissig und bröckelte an vielen Stellen.
»Dieses schäbige Haus?«, sagte Fygen enttäuscht, doch die Kleine hatte bereits das Interesse an ihr verloren und gab keine Antwort. Stattdessen echote eine schneidende Stimme neben ihr: »Ja, dieses schäbige Haus. Ist wohl nicht fein genug für meine arme Base vom Land?«
Fygen wandte den Kopf und sah in die abweisenden Augen eines großen, ungeschlachten Mädchens mit einem flächigen, unschönen Gesicht, das zudem noch durch eine Warze unter dem linken Auge verunziert war. Das Mädchen war höchstens drei Jahre älter als sie selbst, stellte Fygen fest, doch es überragte sie um gut einen und einen halben Kopf. »O entschuldige«, stotterte sie, »ich wollte nicht …« – »Was wolltest du nicht?«, schnappte das Mädchen. »Unhöflich sein? Gib dir keine Mühe, auf dich hat hier ohnehin keiner gewartet«, fügte sie böse hinzu.
6. Kapitel
D ie Hähne krähten hier in der Stadt bei Morgengrauen genauso fürchterlich wie zu Hause, stellte Fygen fest und hätte sich gerne noch einmal auf die andere Seite gedreht. Obwohl ihr Lager auf dem Boden in der Werkstatt bei weitem nicht so gemütlich war wie ihre kleine Kammer zu Hause hoch unter dem Dach. Hier hatte sie sich am Abend zuvor gemeinsam mit den anderen drei Lehrmädchen ihr dünnes Lager aus Strohbündeln
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