Die Seidenweberin: Roman (German Edition)
er das getan.«
»Ist dir die Sonne nicht bekommen? Du solltest dich in den Schatten setzten«, sagte er betont fürsorglich, doch sein Funkeln in den Augen verriet ihn.
»Du willst mich veräppeln«, schalt Fygen. »Was ist das für eine Figur?«
»Das ist der Platzjabbeck. Zu jeder vollen Stunde streckt er in der Tat die Zunge heraus, um zu verkünden, was die Stunde geschlagen hat.«
Fygen zog ein so komisches Gesicht, dass Rudolf sich schier ausschüttete vor Lachen.
Als er sich wieder beruhigt hatte, rieb er sich den mageren Leib und fragte: »Hast du Hunger?«
»Ich bin immer hungrig«, gestand Fygen.
»Dann komm. Ich weiß, wo ich uns etwas Essbares besorgen kann.« Entschlossen fasste er Fygen bei der Hand und zog sie mit sich fort in Richtung der schmalen Fachwerkhäuser, welche die Ostseite des Platzes säumten. Zielstrebig steuerte er auf einen Weinzapf zu, doch kurz vor dem Haus bog er in einen engen Weg ein, mehr ein Durchlass denn eine Gasse. Fygen war ihm schon fast um die Ecke gefolgt, als sie abrupt stehenblieb. Ein schlankes junges Mädchen in Begleitung zweier Burschen schritt auf die Tür des Weinzapfes zu. Besitzergreifend hatte der ältere Bursche den Arm um die Taille des Mädchens gelegt. Sie schien sich über etwas, das der Jüngere gesagt hatte, sehr zu amüsieren. Geschmeidig bog sie den Oberkörper zurück, und ihr ausgelassenes Kichern drang bis zu Fygen herüber. Ebenfalls lachend zog der Ältere das Mädchen näher zu sich heran und drückte ihr einen Kuss auf die Wange.
Fygen huschte eilig in den Weg hinein, um nicht von den dreien entdeckt zu werden. Denn das Mädchen, das sich in so offensichtlich unziemlicher Gesellschaft befand, anstatt sonntags seine Eltern zu besuchen, war niemand anderes als Sewis.
Fygen folgte Rudolf weiter das Gässchen hinein, bis er vor einer schmalen Pforte stehen blieb. Verschwörerisch legte er den Finger auf die Lippen und bedeutete ihr, sich auf die steinerne Schwelle zu setzen. »Sei mäuschenstill, ich bin gleich wieder da.« Nachdem er sich versichert hatte, dass außer ihnen niemand in der Gasse war, verschwand er flugs durch das hölzerne Tor.
Mit unguten Gefühlen, gemischt mit einer gehörigen Portion Angst, saß Fygen auf der Schwelle und fragte sich, ob ihr neuer Begleiter nun eine Dieberei begehen würde. Was, wenn er entdeckt würde? Vorsichtshalber stand sie auf, um notfalls schneller fliehen zu können. Doch es dauerte nur wenige Momente, bis Rudolf wieder erschien, ein höchst zufriedenes Grinsen auf dem schmalen Gesicht. Triumphierend schwenkte er ein Bündel in der Luft, eingeschlagen in rotes Tuch. In der anderen Hand trug er einen steinernen Krug. Neben der Schwelle ging er in die Hocke und knotete das Bündel auf. Zum Vorschein kamen knusprig gebratene Hühnerbeine und dazu noch ofenwarmes, duftendes Brot. »Madame, es ist angerichtet«, verkündete er, setzte sich gemütlich auf die Schwelle und zog Fygen zu sich herunter. Dem Mädchen lief das Wasser im Mund zusammen. Dieberei hin oder her, eine solche Einladung konnte man nicht ausschlagen.
Fygen legte den abgenagten Knochen aus der Hand, ein glückliches Lächeln auf dem Gesicht. Eine schmale Fettspur lief über ihr Kinn, und mit einem zufriedenen Seufzen brach sie sich noch ein Stück Brot ab. Rudolf reichte ihr den Krug. Fygen setzte ihn an die Lippen und nahm einen Schluck. Zu ihrer großen Freude enthielt er nicht das abscheuliche Keutebier, sondern einen wirklich annehmbaren Rheinwein. Gerade wollte sie sich einen zweiten Schluck gönnen, als sich plötzlich das Tor hinter ihnen öffnete. Eine dralle Frau erschien im Türrahmen und füllte die gesamte Breite der Pforte. Ihre flinken Augen glitten forschend über die improvisierte Tafel, und Fygen hielt vor Schreck die Luft an. Für Flucht war es nun zu spät. Hätte sie nur nicht zugelassen, dass …
Die Dralle hatte rasch die Situation erfasst, stemmte die rundlichen Arme in die Seite und schüttelte den Kopf. »Rudolf, was machst du denn hier? Deine Mutter hat dich schon gesucht«, tadelte sie. »Wenn ihr Hunger habt, setzt euch doch einfach zum Essen in die Küche, statt hier auf den Boden. Es sind sicher auch noch ein paar süße Küchlein da.«
»Spielverderber«, brummte Rudolf. Er erhob sich, klopfte sich den Staub von der Hose, und wieder überzog dieses verschmitzte Lächeln sein schmales Gesicht.
Es dauerte einen Moment, bis Fygen die Zusammenhänge erkannt hatte. Die Situation war ihr höchst
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