Die Seidenweberin: Roman (German Edition)
an. Dann fiel ihr Blick auf die beschmutzten Stoffballen, und ihr Zetern zerriss die Ruhe der Halle. »Dass du es wagst, hier mit diesen verdreckten Dingern anzukommen. Was hast du nur damit gemacht? Bist du denn zu nichts zu gebrauchen?« Wie gestochen fuhr sie von ihrem Hocker auf und schlug Fygen rechts und links ins Gesicht. Das Mädchen hob zum Schutz die Arme vor das Gesicht und wich nach hinten, so dass sie die Schläge der Meisterin, die durch ihren Verkaufstisch behindert wurde, nicht mehr erreichten. Wütend hieb Mettel mit beiden Fäusten durch die Luft, bis ihr die Puste ausging. »Du hast es geschafft, die Arbeit einer ganzen Woche zu ruinieren«, geiferte sie. »Du dummes Stück!«
An den benachbarten Tischen verstummten die Gespräche, und neugierig blickten Händler und Kunden herüber.
Mettel ließ sich schwer auf den Hocker zurückfallen. »Du schuldest mir das Geld für die Rohseide, dazu die Gebühr für den Stelrever und den Lohn für den Färber«, zählte Mettel auf. »Glaub nicht, dass ich dir das vergesse«, drohte sie unheilvoll leise, und Fygen wich noch einen Schritt zurück. Aus sicherer Entfernung wagte sie nun den Versuch einer Verteidigung: »Es sind doch nur die Hüllen beschmutzt, die Seide ist sicher unversehrt. Ich habe sie gut eingeschlagen.«
»Verschwinde«, zischte Mettel ihr böse zu, »verschwinde auf der Stelle.«
Empört biss Fygen sich auf die Lippe. Sie spürte, wie ihr das Blut ins Gesicht schoss. Mit hochrotem Kopf drehte sie sich um und strebte dem Ausgangstor zu. Die Seidhändler wandten sich ihren Geschäften zu, und die Gespräche an den Tischen setzten wieder ein.
In der Nähe der Tür fesselte etwas Fygens Aufmerksamkeit. An einem großen Stand hatte ein Händler einen Ballen nachtgrünen Seidensatin ausgebreitet. Das Sonnenlicht fiel in schrägen Strahlen auf den Stoff und brach sich in einer bezaubernden Farbvielfalt. Von Flaschengrün über Grasfarben bis zu Türkis schimmerte der Taft, und in den Falten lauerte es beinahe schwarz. Am anderen Ende des Verkaufstisches legte der Händler einer vornehmen Kundin hellblauen Taft vor. Ein Gesprächsfetzen wehte herüber: »… unterstreicht ausgezeichnet die Farbe Eurer Augen. Der Herr Gemahl wird sicher …«
Fygen trat an den Tisch mit dem grünen Satin heran, streckte vorsichtig die Hand aus und berührte das Tuch. Es fühlte sich erstaunlich kühl und glatt an, stellte sie fest. Was für ein Gefühl es wohl sein mochte, diese Seide als Kleid auf der Haut zu tragen? Bewundernd strich sie mit der flachen Hand eine Falte auf dem makellosen Gewebe glatt.
Plötzlich legte sich eine dürre, knochige Hand wie eine Klaue auf die ihre und drückte sie. Erschreckt zog Fygen ihre Hand fort und wandte sich um. Neben ihr stand ein kleines hutzeliges Weiblein, das nur aus Haut und Knochen zu bestehen schien. Die Frau war krumm gebeugt, doch ihre dunklen Vogelaugen funkelten lebhaft. Erschrocken wich Fygen vor ihr zurück. Doch dann ließ ein überraschend warmes Lächeln das Gesicht der Alten in Tausende von Runzeln zerspringen. »Sie ist wunderschön, nicht wahr?«, wisperte die Alte mit einem Nicken in Richtung des Ballens nachtgrüner Seide, den Fygen so liebevoll betrachtet hatte. Zustimmend erwiderte Fygen das Lächeln. Die Alte streckte erneut die dürre Hand aus, fasste in den Stoff und drückte ihn zusammen. Ihr Griff verursachte ein Geräusch, als beträte man frisch gefallenen Schnee. »Das ist der Seidenschrei«, raunte sie. Dann trat sie näher zu Fygen heran und bedeutete ihr mit einem Winken der dürren Finger, sich zu ihr hinabzubeugen. »Die Chinesen wussten, was gut ist«, flüsterte sie. »Vor über dreitausend Jahren gab es in China einen Kaiser. Hoangti hieß er, und er herrschte über ein halbes Jahrhundert lang. Er war mächtig und reich, aber er war auch eitel, und so befahl er seiner Gattin, der Kaiserin Si Ling Chi, sich mit ihren Hofdamen um die Zucht von Seidenraupen zu kümmern.« Mit einem raschen Blick vergewisserte sie sich, dass Fygen ihr noch zuhörte. Dann fuhr sie fort: »Jahrtausendelang lag die Kunst der Seidengewinnung allein in der Hand des chinesischen Kaiserhauses und war durch strengste Gesetze geschützt. Die Ausfuhr der Raupen und ihrer Eier war bei Androhung der Todesstrafe verboten.«
Fasziniert nahm Fygen jedes Wort von den schmalen, trockenen Lippen in sich auf, doch abrupt brach die Alte ihre Erzählung ab und sagte mit wissendem Lächeln: »Ich sehe, dass du die Seide
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