Die Seidenweberin: Roman (German Edition)
heraushängend, wirkte er nicht mehr bedrohlich. Sabber tropfte ihm aus dem Maul, und Fygen merkte, dass er nicht sie anstarrte, sondern das, was sie in der Hand trug: das Paket mit den Würsten. Fygen musste fast lachen. Die Starkenbergschen Würste schienen eine wichtige Rolle in ihrem neuen Leben zu spielen. Mit ruhigen Bewegungen, um das Tier nicht zu erschrecken, öffnete sie das Bündel, nahm eine Wurst heraus, brach ein Stück davon ab und überreichte es ihm mit spitzen Fingern. Vorsichtig, fast andächtig, nahm der Hund die Schweinswurst entgegen, entfernte sich mit seiner Beute einige Schritte von den Mädchen und ließ sich in einer Ecke des Hofes nieder, um genüsslich diese Delikatesse zu verspeisen.
Katryn hatte die ganze Zeit wie angewurzelt neben dem Torbogen gestanden und hilflos mit angesehen, wie der Hund Fygen angriff. Nun beobachtete sie staunend, wie das Tier sich an der Wurst gütlich tat, und bemerkte nicht, dass ein grobschlächtiger Mann in Arbeitskleidung aus dem Torhaus gekommen und von hinten an sie herangetreten war. Erst als er mit schmerzhaft festem Griff ihren Oberarm packte und sie zu sich herumdrehte, schrie sie auf.
»Was habt ihr hier zu suchen?«, brüllte der Mann Katryn ins Ohr.
Der Hund sprang hastig auf und verschwand, den Schwanz zwischen die Hinterbeine geklemmt, in Richtung Obstgarten.
»Wir, äh, wir sind …«, stotterte Katryn mit hochrotem Kopf, sichtlich um eine Antwort verlegen.
Energisch schob der Mann, wohl der Verwalter, mutmaßte Fygen, Katryn am Arm zu ihr hin, um auch sie zu packen. Fieberhaft suchte sie nach einer Ausrede. Katryn wand sich und schrie vor Schmerz auf, als der grobe Kerl seinen Griff verstärkte. Ihr Wurstpaket fiel mit dumpfem Klatschen zu Boden.
Was bei dem Hund funktioniert hat, könnte auch bei seinem Herrn klappen, hoffte Fygen. Geistesgegenwärtig hob sie ihr Wurstpaket hoch, schlug das Tuch beiseite und bot dem Mann ihre Würste dar. »Vielleicht möchtet Ihr Wurst kaufen? Frische Schweinswürst’ hätt ich, der Herr«, versuchte sie sich marktschreierisch.
»Wir dulden hier kein Gesindel. Schert euch fort!«, raunzte der Mann. Doch Fygen schien überzeugend gewesen zu sein, denn immerhin ließ er endlich Katryns Arm los.
»Der Bedarf der Wolkenburg wird im Großen gedeckt«, erklärte er großspurig. »Und jetzt verschwindet hier. Schert euch raus, bevor ich die Hunde auf euch hetze.«
»Schon geschehen«, murmelte Fygen.
»Was hast du da zu tuscheln, du freches Gör«, rief er hinter ihnen her, doch die Mädchen hatten sich bereits umgedreht, waren durch den Torbogen gehuscht und rannten die Straße hinab. Erst bei St. Agathe blieben sie stehen und rangen nach Atem. Katryn rollt den Ärmel ihres Kleides hoch und rieb sich den schmerzenden Arm. Deutlich waren die Abdrücke von Fingern auf Katryns Haut zu erkennen.
»So ein schönes Haus und so ein garstiger Verwalter«, mokierte sich Fygen.
»Was würdest du davon halten, wenn jeder von der Straße einfach so hereinspaziert käme und sich in deinem Garten niederlassen würde?«, fragte Katryn ein wenig ungehalten.
»Ich wäre stolz und würde mich freuen, wenn den Leuten mein Haus gefällt.« Fygen reckte trotzig das Kinn vor. Ihre Augen hatten sich in zimtfarbene Teiche verwandelt, und mit kaum vernehmlicher Stimme erklärte sie mehr sich selbst als an die Freundin gerichtet: »Haus Wolkenburg. Da werde ich einst wohnen. Du wirst sehen.«
»Haus Wolkenburg, du sagst es. Wolkenburg wie Luftschloss«, spöttelte Katryn. Doch ein winziger, selbstbewusster Ton in Fygens Stimme ließ Katryn weitere Bemerkungen herunterschlucken, die ihr auf der Zunge lagen.
12. Kapitel
W enn heute Nacht nicht der Schyssefeger kommt, drehe ich noch durch.« Sewis verzog angewidert das Gesicht und rührte lustlos mit dem Löffel in ihrer Schale herum. Die Mädchen saßen um den Küchentisch und löffelten missmutig ihre Morgensuppe. Ein widerlicher Gestank wehte vom Hof hinein und verdarb ihnen den Appetit. Der Herbst war in diesem Jahr spät, aber mit Macht gekommen, und seit Tagen regnete es ohne Unterlass. Die üblen Ausdünstungen gingen von der Latrine aus, die bis zum Rand gefüllt war und dringend hätte ausgehoben werden müssen. Und nun hatte der Regen sie zum Überlaufen gebracht. In dünnen Rinnsalen lief die Gülle über den Hof. Es war kaum auszuhalten.
»Ich glaube nicht, dass er so bald kommt«, entgegnete Katryn stumpf. »Nicht nachdem Mettel das letzte Mal mit ihm um seinen
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