Die Seidenweberin: Roman (German Edition)
den Leim«, erklärte Marie und holte die Zweige heraus. Mit der anderen Hand griff sie nach den Fäden und legte die Rute zur Seite. Dann zog sie die Fäden zu sich heran, die sich spielend leicht von den Kokons lösten. Wie kleine Boote dümpelten die Kokons auf dem Wasser, fand Fygen, während Marie so lange wickelte, bis das äußere Gewebe des Kokons, die Flockseide, abgewickelt war. »Siehst du, nun kommen die feinen Seidenfäden«, sagte sie zu Fygen, legte die Flockseide beiseite, tauchte wieder den Reisig ins Wasser und rührte erneut, bis sie alle Enden der Seidenfäden erwischt hatte. Sorgfältig legte sie diese zusammen und befestigte sie an einem Stückchen Holz, das sie Fygen in die Hand gab. »Geh damit jetzt langsam auf die andere Seite des Herdes«, wies sie das Mädchen an. »Der weich gewordene Seidenleim klebt durch die Wärme die Fäden wieder zu einem einzigen Faden zusammen. Beim Haspeln muss man genau darauf achten, dass der Faden gleichmäßig dick bleibt«, erklärte sie. »Die einzelnen Kokonfäden sind am Anfang und am Ende des Kokons dünner als in der Mitte. Das muss durch Fortnehmen oder Zufügen einzelner Fäden ausgeglichen werden.« Als Fygen fast das andere Ende des Raumes erreicht hatte, sagte Marie: »So, nun bleib stehen, wo du bist, und wickele den Faden langsam und gleichmäßig auf das Holz. Auf dieser Strecke kann der Seidenfaden trocknen, damit er beim Aufwickeln nicht hoffnungslos zusammenklebt.«
Gemeinsam haspelten sie die Kokons ab, bis nur noch ein pergamentartig verfilzter Rest übrigblieb, der nicht abzuhaspeln war. Schließlich hatte Fygen einen Faden von ein paar hundert Fuß auf das Holzstück gewickelt.
»So, jetzt weißt du, wie die Rohseide entsteht«, sagte Marie und ließ sich wieder auf ihrem Hocker nieder.
Fygen drehte den feinen Faden zwischen ihren Fingern. Er war viel dünner als die Seidengarne, die sie in der Werkstatt verwendeten.
»Die Rohseide muss nun gezwirnt werden, das heißt, man nimmt mehrere Fäden und verdreht sie zu einem einzigen, dickeren Faden. Es gibt zwei Arten gezwirnter Seide. Die fest gezwirnte Kettseide, die stark gedreht wird, damit sie die hohe Spannung beim Weben übersteht, und die Schussseide, auch Trame genannt, die weitaus weniger angestrengt wird und im Wesentlichen füllen muss. Sie wird deutlich loser gedreht.«
»Woher weißt du das alles?«, wollte Fygen von der alten Frau wissen.
»Weißt du, Kind, ich war nicht immer alt. Und ich habe auch nicht immer hier in Köln gelebt«, erklärte Marie geheimnisvoll.
»Wo hast du gelebt?«
»Oh, hier und dort. In Venedig, in Lucca, in Como … Immer dort, wo es Arbeit gab.« Marie ließ ihre abgearbeiteten Hände in den Schoß sinken und betrachtete sie sinnend. »In Lucca«, erzählte sie, »da haben wir Seide gehaspelt, von früh bis spät. Zwanzig Frauen in einem zugigen Raum.« Sie schaute auf und blickte Fygen direkt an. »Ein Raum, in dem gehaspelt wird, muss luftig sein, damit die frisch gehaspelte, nasse Seide schnell trocknet und die einzelnen Fäden nicht in den Strähnen zusammenkleben. Umso mehr, da man ja gleichzeitig dampfend heißes Wasser braucht. Es war eine beschwerliche Arbeit. Im Sommer, wenn es richtig heiß war, dampfte der ganze Raum. Es war heiß, schwül, und dazu kam auch noch die elende Hitze des Ofens. Im Winter dagegen verdichteten sich bei der Kälte die Dämpfe des heißen Wassers aus den Kesseln und wurden sichtbar, so dass man nichts mehr unterscheiden konnte. Da war es sehr schwer, einen gleichmäßigen Faden zu haspeln. Das Schlimmste aber war der Temperaturunterschied zwischen der kalten Luft und dem heißen Wasser. Die Finger litten sehr, die Knochen schmerzten, die Haut trocknete aus und riss auf. Manche der älteren Frauen hatten richtige Beulen an den Händen und konnten später kaum noch die feinen Fäden fassen.« Marie rieb sich die dürren, knochigen Hände, als spüre sie noch heute den Schmerz. Dann lachte sie trocken auf und sah Fygen aus ihren fröhlichen Vogelaugen an. »Aber das«, sagte sie, »war in einem anderen Leben, in einem anderen Land.«
In der vergangenen Nacht war der Schyssefeger endlich doch noch gekommen. Das Wetter hatte sich etwas gebessert, aber man merkte deutlich, dass die Tage kürzer wurden. Fygen hatte nichts dagegen, denn das bedeutete einen kürzeren Arbeitstag. Ohne Licht konnte man nicht arbeiten, und so endete ihr Tagewerk, sehr zur Freude der Mädchen, bereits am späten Nachmittag. Daher war
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