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Die Seidenweberin: Roman (German Edition)

Die Seidenweberin: Roman (German Edition)

Titel: Die Seidenweberin: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ursula Niehaus
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dann näherten sich schlurfende Schritte, und das zerknitterte Gesicht der alten Frau lugte durch den Türspalt.
    »Oh, das Mädchen mit den goldenen Augen. Nur herein! Wie schön, dass du mich besuchen kommst«, rief die Seidspinnerin und zog Fygen erfreut lächelnd ins Innere des Hauses.
    Neugierig blickte Fygen sich um. Das untere Geschoss schien nur aus einer einzigen großen Stube zu bestehen, stellte sie fest. Hier wurde gekocht, gelebt und gearbeitet. Eine steile hölzerne Steige führte ins Obergeschoss hinauf, wo sich eine Schlafkammer befinden mochte, doch im hinteren Teil des Raumes sah Fygen eine Bettstatt. Marie war es wohl zu mühsam geworden, jeden Abend die steile Treppe zu erklimmen.
    »Ja, die Beine wollen nicht mehr so recht.« Marie war ihrem Blick gefolgt und hatte ihre Gedanken erraten. »Aber solang die Hände noch können, verdiene ich mein Brot.« Mit einer Geste ihrer knochigen Rechten hieß sie Fygen sich auf einen Hocker an den Tisch zu setzen. Dann wandte sie sich ab und machte sich an einer Truhe zu schaffen, während sie halblaut vor sich hin murmelte. Nach einer Weile kehrte sie zum Tisch zurück und ließ etwas Leichtes in Fygens Schoß fallen. Überrascht blickte das Mädchen auf seinen Rock hinab. Da lagen fünf weißliche, kleine, eiförmige Knäuel, jedes vielleicht einen halben Finger lang. Fygen nahm eines der zarten Gebilde in die Hand. Es war erstaunlich fest und hatte eine Einschnürung in der Mitte. Es war nicht wirklich weiß, vielmehr schimmerte es elfenbeinfarben, fast sogar ein wenig rosa, stellte Fygen fest.
    »Weißt du, was das ist?«, fragte Marie.
    Fygen schüttelte den Kopf.
    »Das, mein Kind, das ist Seide!«
    Erstaunt hob Fygen den Blick zu Maries dunklen Vogelaugen.
    »Es ist ein Kokon. Der Kokon eines Seidenspinners.« Marie hatte sich zu Fygen an den Tisch gesetzt und lehnte sich ein wenig zurück, als sie anfing zu erzählen. »Der Seidenspinner ist ein Schmetterling. Er legt Eier, aus denen winzige Raupen schlüpfen. Um zu wachsen, müssen die Raupen Unmengen von Blättern fressen. Aber die Raupen sind sehr wählerisch und fressen nur die Blätter eines bestimmten Baumes, des Maulbeerbaumes. Dann irgendwann, wenn sie genug gefressen haben, fangen sie an, sich einzupuppen. Das heißt, sie sondern einen endlos langen Faden ab und wickeln sich darin ein, bis sie vollkommen versteckt sind. Dann verwandelt sich die Raupe. Es dauert einen ganzen Monat lang, doch irgendwann beißt sich ein neuer Schmetterling durch den Kokon hindurch in die Freiheit.« Hier machte Marie eine Pause, um sich zu vergewissern, ob Fygen ihr zugehört hatte. Das Mädchen enttäuschte sie nicht. »Du willst damit sagen, dass dieser – Kokon, wie du ihn nennst – aus einem einzigen Faden besteht? Einem Seidenfaden?«
    »Ja genau, du hast gut zugehört.«
    Fygen hob einen Kokon vor ihre Augen und betrachtete ihn aus der Nähe. Es stimmte. Wenn man genau hinsah, konnte man den Faden erkennen. Er war hauchzart.
    »Aber wie bekommt man den Faden von dem Kokon herunter?«, wollte sie wissen. »Man kann ihn ja wohl nicht einfach so abwickeln, oder?«
    »So einfach nicht, aber es ist möglich. Komm mit, ich zeige es dir«, antwortete die alte Seidspinnerin, erfreut über das Interesse des Mädchens. Sie ging zum Herd, füllte einen Kessel mit Wasser und brachte es zum Kochen.
    »Mach geschwind die Fenster auf«, wies sie Fygen an. »Wir brauchen frische Luft. Frische Luft gibt der Seide mehr Glanz.«
    Als das Wasser zu sieden begann, nahm sie den dampfenden Kessel vom Ofen und trug ihn zum Tisch. Dann warf sie die Kokons in das heiße Wasser.
    »Normalerweise nimmt man zwanzig bis dreißig Kokons auf einmal, aber um dir zu zeigen, wie es funktioniert, reichen die wenigen aus, die ich habe.«
    Ein übler Gestank stieg von den Kokons auf, als sich der Seidenleim löste. Gespannt blickte Fygen in den Kessel, und Marie krempelte den Ärmel ihres Kleides hoch. Sie wartete noch einen Moment, und dann nahm sie ein paar Reisigzweige zur Hand.
    »Am besten eignen sich Ruten aus Heidekraut oder Birkenreis«, erklärte sie. »Die äußeren Spitzen der Ruten müssen sehr fein sein, weil sich die Seide sonst nicht von den Kokons abheben lässt, sondern grob und klumpig wird. Schau!« Vorsichtig tauchte sie die Zweige in den Kessel und rührte damit zwischen den Kokons herum. Zu Fygens Erstaunen hatten sich die Enden der Fäden gelöst und verfingen sich nun in den Reisigzweigen. »Das heiße Wasser löst

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