Die Seidenweberin: Roman (German Edition)
das Mädchen verstummte.
Sprachlos, wie gelähmt, saßen die Lehrmädchen am Küchentisch und warteten, bis Sewis nach einer schier unendlichen Zeit mit gepacktem Bündel wieder hereinkam. Schweigend trat sie zum Fensterbrett und brach ein kleines Stück von einem der Kirschzweige ab. Ohne ein Wort des Abschiedes schritt sie an den Mädchen vorbei und trat in die Dunkelheit hinaus.
Vor den Fenstern wurde es langsam finster, doch lange Zeit wollte keines der Mädchen zu Bett gehen.
Der Feiertag des heiligen Nikolaus kam und verging, doch an Feiern und Scherzen fand im Elnerschen Haushalt niemand gefallen. Zu schwer lastete der Gedanke an Sewis’ Schicksal auf den Gemütern der Mädchen. Früh am Morgen entschwand Hylgen, um in der Klosterkirche der heiligen Lucia auf dem Filzengraben eine Kerze zu entzünden und die Heilige um Gnade für Sewis’ Seele zu bitten. Auch das Wetter schien ihre Gefühle zu teilen, denn es regnete. Es regnete bis Weihnachten.
Der Himmel war düster und verhangen. Nebelschwaden krochen den Mädchen unter die Röcke, und die Nässe drang ihnen durch die Kleider bis auf die Haut, als sie zur nächtlichen Christmette in ihre Pfarrkirche St. Brigida gingen. Mettel begleitete ihre Lehrtöchter, denn jedem gläubigen Katholiken war es geboten, zumindest an Weihnachten die heilige Kommunion zu empfangen.
Das Gotteshaus hieß sie in anheimelnder Stimmung willkommen. Unzählige Kerzen beleuchteten den Altar und das Kirchenschiff und tauchten die versammelte Gemeinde in ein warmes gelbes Licht, das sich tröstend auf den Kummer der Seelen legte. Ein schwerer Duft von verbranntem Weihrauch füllte die Luft, und die Gläubigen hatten ihre besten Kleider angelegt.
Der Gottesdienst war wunderschön, fand Fygen, und nach der gewohnten Messfeier wurde mit gebührender Festlichkeit die Geburt des Herrn Jesus Christus mit dem traditionellen Kindleinwiegen begangen. Gebannt schaute Fygen zu, wie der Priester in würdevoller Prozession eine kleine Wiege mit Jesuskind durch die Kirche trug. Der Geistliche stellte die Wiege auf dem Altar ab, und während die Gemeinde »In dulci jubilo, nun singet und seid froh« anstimmte, wiegten zwei Messdiener das Jesuskind im Takt hin und her. Tränen der Rührung stiegen Fygen in die Augen, so dass sie nur mit Schwierigkeit die nächsten Lieder – »Puer nobis natus est« und »Dies est laetitiae« – mitsingen konnte. Zu deutlich stand ihr vor Augen, dass ein anderes Kind, das demnächst das Licht der Welt erblicken würde, bei weitem nicht so herzlich auf Erden empfangen werden würde. Und zum wiederholten Male fragte sie sich, welche Zukunft Sewis und ihrem Kind beschieden wäre. Von ganzem Herzen schloss sie die beiden in das abschließende Gebet ein, bevor sie mit den anderen in die Nacht hinaustrat.
Als Fygen am Weihnachtsmorgen in die Küche kam, zeigte der Kirschzweig auf der Fensterbank eine einzelne, blassweiße Blüte.
Nach einem ungemütlichen Frühstück allein mit Mettel und Grete beeilte Fygen sich, das Geschirr abzuräumen und zu spülen. Dann schlüpfte sie in ihr gutes Kleid, stopfte die Zöpfe unter ihre gestärkte Haube und verließ freudig das Elnersche Haus. Frau Starkenberg hatte sie eingeladen, den ersten Weihnachtsfeiertag bei ihnen zu verbringen.
Das Starkenbergsche Haus war festlich geschmückt, und aus den Fenstern warfen Kerzen ihr Licht in das Grau des Tages.
Fygen wurde von Katryn und ihrer Mutter fröhlich begrüßt. Adelheid, Katryns kleine Schwester, drückte sie zur Begrüßung an sich, und Heinrich Starkenberg zwinkerte ihr fröhlich zu. Er war ein großer, breitschultriger Mann in mittleren Jahren, dem man seinen wirtschaftlichen Erfolg ansah. Wohlgenährt war er, hatte einen stattlichen Bauch und ein sich vom Weingenuss langsam rötendes, volles Gesicht mit einer auffallend großen, knolligen Nase. Katryn konnte von Glück sagen, dass sie nicht anstelle der hübschen Nase ihrer Mutter diese Nase geerbt hatte, dachte Fygen. Wohl aber stammten Katryns warme braune Augen von Heinrich, dessen Gesicht bei allem Frohsinn durch sie eine gewisse Ernsthaftigkeit bekam.
Im großen Saal im Obergeschoss bog sich eine üppige Festtagstafel unter der Last von Platten und Tellern. Es gab Wildbret, Fisch, eine glasierte Schweinskeule und zartes Lamm. Dazu einen wundervollen Wein von der Nahe, herrlich frischen Kuchen und gebackene Äpfel zum Nachtisch. Das Licht der schweren silbernen Kerzenleuchter strahlte auf den Gesichtern der
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