Die Seidenweberin: Roman (German Edition)
gegen die Bedrohung tun zu können, ihr nicht hilflos ausgeliefert zu sein. Und des Nachts bescherte ihnen die Müdigkeit einen erlösenden, todesähnlichen Schlaf der Erschöpfung.
Wer nicht schlief, saß in den Wein- und Bierzapfen und diskutierte die Lage der Stadt, des Reiches, ja sogar des Kaisers und wusste besser als der ehrwürdige Rat der Stadt, was zu tun und was zu lassen sei, um die Gefahr abzuwenden. Jeder Ratsbeschluss wurde leidenschaftlich verteidigt von den einen und heftig kritisiert von den anderen. War es sinnvoll, den Einkauf von Lebensmitteln zu reglementieren? Und den Bau von Brunnen? Und, im vertrauteren Kreise, wie ließen sich trotzdem Vorräte hamstern? Als eine der ersten Maßnahmen hatten die Stadtväter den Brotpreis herabgesetzt und festgeschrieben, um Wucherpreisen der Bäcker vorzugreifen. Einmütig waren jedoch alle der Meinung, die fünfprozentige Vermögensabgabe zur Deckung der Kriegskosten, die von jedem Bürger zu leisten war, sei eine Frechheit.
Rudolf hatte im Goldenen Krützchen alle Hände voll zu tun, die durstigen Mäuler zu bewirten. Seit geraumer Zeit schon hatte er keine Zeit gefunden, sich mit Fygen zu treffen.
Dicke gelbe Wolken schoben sich von Westen her vor die Sonne, doch sie brachten keine Abkühlung. Die Luft vermischte sich mit Staub und Schweiß zu einem klebrigen Film auf der Haut. Wolken von winzigen Gewitterfliegen umschwärmten Fygen, setzten sich auf die Augenlider und gerieten ihr bei jedem Atemzug in Mund und Nase. Von Ferne grollte es. Die Frauen hatten den letzten Streifen ihres Abschnittes von Buschwerk befreit. Traurig und vernarbt lag die trockene, aufgerissene Erde vor ihnen.
»Wir sollten sehen, dass wir nach Hause kommen, da hinten braut sich ein Wetter zusammen«, mahnte eine der Frauen.
Fygen streckte ihren müden Rücken durch, streifte die Erde von der Hacke und hob sie sich auf die Schulter. Erschöpft machten die Frauen sich auf den Heimweg. Ein böiger Wind erhob sich und wirbelte kreiselnd Staubwolken auf. Plötzlich strauchelte Katryn und wäre fast gefallen. Haltsuchend griff sie nach Fygens Arm. Fygen ließ die Hacke in den Staub fallen und hielt die Freundin mit beiden Händen fest. Katryn schien nicht sicher auf den Beinen zu stehen. Ihr Gesicht hatte alle Farbe verloren, und die dunklen Augen lagen tief in ihren Höhlen.
»Willst du dich einen Moment ausruhen? Du solltest dich hinsetzen«, sagte Fygen besorgt. Die Anstrengungen der letzten Wochen schienen Katryn sehr entkräftet zu haben.
»Nein, nein, lass nur. Es geht schon wieder. Lass uns sehen, dass wir vor dem Regen nach Hause kommen.« Tapfer biss Katryn sich auf die Lippe und machte ein paar Schritte vorwärts, doch zur Sicherheit hielt sie weiterhin Fygens Arm umfasst.
Kurz bevor sie das Severinstor erreicht hatten, klatschten die ersten Tropfen, groß wie Münzen, in den Staub der Straße.
Sie waren bis auf die Haut durchnässt, als sie das kleine Haus vor St. Martin, nicht weit von Unter Seidmachern, erreichten, das Mertyn für Katryn und sich gemietet hatte. Das Haus mit dem anheimelnden Namen »Zum Roden Gevel« war bescheiden, aber hübsch, ordentlich weiß getüncht und sauber. Und der rote Giebel gab ihm einen freundlichen Anstrich. Nicht im entferntesten hielt es einem Vergleich mit dem prächtigen Starkenbergschen Haus in der Rheingasse stand, aber es war ein Haus zum Wohlfühlen. Fygen liebte es, und obwohl sie als Lehrmädchen noch immer in der Werkstatt schlafen musste, war es in den vergangenen drei Jahren für sie ein wirkliches Zuhause geworden. Im Erdgeschoss befand sich Mertyns Handelskontor und eine geräumige Werkstatt für Katryn, ausgestattet mit drei Webstühlen, die zwar nicht mehr ganz neu, dafür aber aus bestem Holz und gut gearbeitet waren, dahinter lagen in einem Anbau zum Hof Küche und Wirtschaftsraum.
Über eine steile Stiege brachte Fygen die Freundin in das Obergeschoss hinauf. Vorn erstreckte sich auf der ganzen Breite des Hauses eine Stube mit drei niedrigen Fenstern. Die Wände waren nicht mit Holz getäfelt, sondern nur schlicht getüncht, und außer einem Tisch, Stühlen und einer Truhe standen nicht sehr viele Möbelstücke darin. Doch es gab einen Ofen, der in der kalten Jahreszeit eine wohlige Wärme verbreitete, und Katryn hatte den Raum mit ein paar bestickten Kissen, Töpfen mit Blumen und gewirkten Läufern gemütlich und bequem eingerichtet.
Im hinteren Teil des Obergeschosses befand sich ein Schlafraum, in den
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