Die Seidenweberin: Roman (German Edition)
Punkt: »Es ist schon unglaublich, dass Peter Lützenkirchen so unter seinem Niveau heiratet. Aber wenn es den Männern in die Hose fährt …«
Erstaunlicherweise war es diese grobe Unhöflichkeit, die Fygen jäh das Gefühl der Unwirklichkeit, das sie auch auf dem Weg zur Kirche nicht verlassen hatte, nahm. Jetzt, jetzt endlich glaubte Fygen selbst daran. Es würde geschehen. Sie würde Peter heiraten. Heute. Hier in dieser Kirche. Mit einem Mal stieg eine unbändige Freude in ihr auf. Sie schien aus dem Bauch zu kommen und bis in die Haarspitzen hinaufzulodern. Tief sog sie die Luft ein, und ein schier unauslöschliches Strahlen breitete sich auf ihrem Gesicht aus.
Peter erwartete sie oben auf den Stufen vor dem Portal. Mit keiner Regung ließ er erkennen, dass er Gretes Worte gehört hatte. Fröhlich blitzte er Fygen an und reichte ihr galant den Arm. Seine himmelblaue, mit Silberfäden bestickte Wolljuppe strahlte mit seinen Augen um die Wette, und einmal mehr dachte Fygen, dass er trotz aller Eleganz seiner Erscheinung wie ein großer Junge aussah.
Feierliche Kühle und der Duft von Weihrauch umfingen sie, als sie den Mittelgang zwischen den Bankreihen zum Altar entlangschritten. Hinter ihnen betraten die Kirchgänger, geladene Gäste und Neugierige, das Gotteshaus und verteilten sich in die Bänke. Nur die ersten beiden Reihen, gewöhnlich reserviert für Verwandte und Angehörige des Brautpaares, blieben leer. Doch dann schob sich eine kleine, schmächtige, schwarz gekleidete Gestalt nach vorn. Schwer gestützt auf ihren Stock, versuchte sie dennoch einen ehrfürchtigen Knicks, bevor sie sich in der ersten Reihe auf der Seite der Braut niederließ. Selbstbewusst ordnete Marie vom Hühnermarkt ihre Röcke um sich herum und winkte Fygen fröhlich mit dem Knauf ihres Stockes zu. Katryn hatte ebenfalls die leeren Reihen bemerkt, die so deutlich vom Fehlen von Fygens Familie Zeugnis ablegten. Hoch erhobenen Hauptes griff sie Maries Beispiel auf, und bald saßen neben Mertyn Katryns Vater, Adelheid und ihr selbst auch Rudolf und seine Familie mit Sewis, die den kleinen, inzwischen bereits dreijährigen Herman auf den Knien hielt. Mettel, die nun ebenfalls mit Grete im Schlepptau ihren Anspruch auf die besten Plätze geltend machen wollte, fand beim besten Willen keinen Platz mehr und musste sich schnaubend wieder in den hinteren Teil der Kirche zurückziehen.
Die erste Reihe hinter Peter jedoch war und blieb leer. Was war eigentlich mit Peters Familie, fragte Fygen sich. Hatte er überhaupt noch eine Familie? Erstaunt und ein wenig schuldbewusst stellte sie fest, dass sie sich diese Fragen nie gestellt hatte. Aber Peter war so viel älter als sie, so erwachsen und selbständig, dass ihr der Gedanke nie gekommen war. Doch jetzt war nicht der rechte Zeitpunkt, darüber nachzudenken. Eben trat der Pfarrer, gefolgt von seinem Kaplan und vier Messdienern, aus der Sakristei, und die Gemeinde erhob sich von ihren Sitzen.
An die eigentliche Trauung und daran, worüber der Pfarrer in der Predigt gesprochen hatte, vermochte Fygen sich im Nachhinein nicht zu erinnern. Mechanisch hatte sie sich hingekniet und geantwortet, wenn es von ihr verlangt wurde. Nur an das überschäumende Glück, wenn sie ihrem künftigen Ehemann einen verstohlenen Blick zuwarf, erinnerte sie sich. Sie war froh und dankbar, dass der Schleier ihr Gesicht ein wenig verbarg, denn sie war überzeugt davon, völlig unangemessen zu grinsen und wie eine komplette Idiotin auszusehen.
Dann war es vorbei. Peter wandte sich ihr zu, hob ihren Schleier vorsichtig an und schlug ihn sanft über ihr Haar zurück, als befürchte er, eine Kostbarkeit zu zerstören. Sein funkelnder Blick suchte den ihren, senkte sich in ihre Augen. Tief. Blau. Lange. Sie hielt ihn fest. Wollte ihn für immer behalten. Zugleich fürchtete sie, den Boden unter den Füßen zu verlieren. Dann beugte er sich langsam zu ihr hinab, vorsichtig, und küsste sie zart auf die Lippen.
Hochrufe wurden laut, ein Hoch auf das Brautpaar. Sie rissen den Kokon um Peter und Fygen in Fetzen. Der Bann war gebrochen. Überschwänglich schloss Peter seine junge Frau in die Arme. Ihr zweiter Kuss war schon von ganz anderer Art.
Nach der Trauung zog das Brautpaar mit den geladenen Gästen zum Schmaus in das Bruloftshaus, einem Gebäude, dass ausschließlich Hochzeitsfeierlichkeiten vorbehalten war. Es lag nur ein paar Minuten entfernt von der Kirche Klein St. Martin am Quatermarkt, gleich gegenüber
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