Die Sekte der Engel: Roman (German Edition)
Stimmengewirr und Geschrei, das trotz der geschlossenen Fensterläden bis auf die Straße zu hören war.
Das Eingangstor öffnete sich, und heraus kamen nacheinander: Tenente Villasevaglios, der Maresciallo, dahinter Marchese Filadelfo Cammarata in Handschellen und zuletzt die zwei Carabinieri. Der Marchese war grünlich im Gesicht und zitterte wie Espenlaub. Aber man sah genau, dass er weder vor Angst noch vor Scham zitterte, sondern vor Wut. Genau in dem Moment, als er durch das Tor ging, öffneten sich schlagartig sämtliche Fenster des Palazzo, und sieben der acht Töchter des Marchese, seine Frau und zwei weinende Hausmädchen erschienen, brüllten aus Leibeskräften und überschütteten die Carabinieri mit Flüchen.
Da machte der Marchese plötzlich einen Sprung nach vorn, hieb blitzschnell seine Zähne in das Ohr des vor ihm gehenden Maresciallo und ließ es nicht mehr los, bis der Oberleutnant seinen Säbel zog und dem Marchese einen heftigen Schlag auf den Kopf versetzte.
Man schätzte, dass mindestens zweihundert Menschen die Carabinieri bis zur Station begleiteten.
Keine Viertelstunde später traf der Anwalt Sciortino ein. Villasevaglios empfing ihn.
«Darf ich erfahren, wie die Anklage gegen meinen Klienten lautet?»
«Versuchter Mord in Mittäterschaft mit einem gewissen Carmine Pregadio.»
«Habt ihr Pregadio auch verhaftet?»
«Er ist flüchtig.»
«Und wen sollen sie zu ermorden versucht haben?»
«Einen jungen Mann. Luigi Chiarapane.»
«Warum?»
«Das kann ich Ihnen nicht sagen.»
Um zwölf Uhr mittags fand im Schloss des Herzogs Ruggero d’Altomonte eine außerordentliche Versammlung statt, an welcher der gesamte Adel von Palizzolo teilnahm, und zwar: Marchese Spinotta, Barone Piscopo, Barone Roccamena und Barone Lo Mascolo (der in Anbetracht der ernsten Lage zum ersten Mal aus dem Haus gegangen war). Erzwungenermaßen abwesend war Marchese Cammarata.
Die Versammlung wurde im Schlafzimmer des Herzogs abgehalten, der mit einer dicken Wolldecke über den Knien in einem Sessel saß. Dem Hundertundzweijährigen war immerzu kalt.
«Es gibt keine Gottesfurcht mehr!»
«Es gibt keinen Respekt mehr!»
«Es gibt keine Ordnung mehr!»
«Es gibt keinen Anstand mehr!»
«Wie weit ist es nur mit uns gekommen?»
«Ein Marchese in Handschellen wie ein gemeiner Verbrecher!»
«An den Pranger gestellt!»
«Dem Gespött und der Gehässigkeit des niederen Volkes ausgesetzt!»
«Die wollen alle Werte umstürzen!»
Nachdem man seinem Herzen Luft gemacht hatte, sagte Marchese Spinotta, der Capitano müsse daran gehindert werden, weiteren Schaden anzurichten.
«Kann er denn noch mehr Schaden anrichten?», fragte Barone Lo Mascolo.
«Und ob!», antwortete Barone Piscopo. «Und das nächste Opfer werden Sie sein!»
«Ich!?»
«O ja, mein Herr! Wissen Sie, dass Montagnet nach Ihrem Familienstand gefragt hat?»
«Ja, ich weiß. Aber warum hat er das getan?»
«Keine Ahnung. Jedenfalls hatte er auch den von Cammarata angefordert, und gleich danach hat er ihn verhaftet. Also …»
Barone Lo Mascolo wurde leichenblass.
«In welcher Beziehung stehen Sie zu Ihrem Cousin, dem Duca von San Loreto?», fragte Baron Roccamena den Marchese Spinotta.
Der Herzog Simone Loreto aus San Loreto war der höchste Würdenträger am Hof Seiner königlichen Majestät.
«In ausgezeichneter Beziehung. Warum?»
«Könnten Sie ihn nicht in Rom anrufen und ihm die Lage schildern, die hier entstanden ist? Ich meine, wenn der Duca dem kommandierenden Generalleutnant ein paar Worte sagen würde …»
«Ich kann es versuchen», sagte Marchese Spinotta.
In diesem Moment öffnete Duca Ruggero d’Altomonte den Mund.
«Meine Freunde …»
Da der Herzog mit hauchdünner Stimme sprach, beugten sich alle zu ihm hinab.
«Wollt ihr wissen, wer an allem schuld ist?»
Nachdem er ein wenig Atem geschöpft hatte, verkündete er unter dem ehrfurchtsvollen Schweigen der Anwesenden seinen Urteilsspruch.
«Schuld an allem ist die Französische Revolution!»
Im Gericht von Camporeale blieb Avvocato Teresi nicht mal eine halbe Stunde, denn der Prozess wurde vertagt. Neben dem Gerichtsgebäude lag das Krankenhaus.
Er überlegte nicht lange, sondern beschloss sofort, dort nachzufragen, wie es der Kleinen ging, der Gewalt angetan worden war, wie er in dem Schriftstück mit der Anzeige des Krankenhausarztes gelesen hatte, während er auf Capitano Montagnet wartete. Die Sache interessierte ihn als Journalist. Er wollte einen Artikel
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