Die seltene Gabe
haben.«
Ich glotzte ihn bloß an wie betäubt, während er aus dem Schrank hervorkam und die Schranktüren sorgsam hinter sich schloss. »Was soll das heißen?«, fragte ich schließlich. »Haben«, wiederholte er. »Das heißt so viel wie besitzen. Verfügen über. Kontrollieren.« Es klang ein bisschen irre, wie er das sagte. Ich schüttelte den Kopf. »Ich glaube dir kein Wort.« Meine wild rotierenden Gedanken produzierten verrückteste Vermutungen. »Ich glaube, du willst dich nur irgendwie herausreden, weil ich dich ertappt habe. In Wirklichkeit hast du dich hier versteckt, weil du...was weiß ich... weil du mich heute Nacht überfallen wolltest, zum Beispiel.«
Er sah mich überrascht an, dann grinste er schief. »So ein Unsinn.« Ich schnappte nach Luft. Das war ja wohl die Höhe! Nicht genug, dass dieser Kerl in mein Haus eingedrungen war, nun tat er auch noch so, als sei ich es, die nicht mehr alle Tassen im Schrank hat, nur weil ich wissen wollte, was er hier suchte. »Zufällig finde ich das alles andere als unsinnig«, gab ich so ätzend wie möglich zurück. »Du hast doch die Polizei überall gesehen, oder?« »Es gibt hunderttausend Gründe, Polizei einzusetzen, und so ungefähr der unwahrscheinlichste davon ist, ausgerechnet dich zu suchen«, erwiderte ich bissig. In diesem Moment hörte ich wieder einen Lautsprecherwagen ganz in der Nähe, nur ein paar Straßen weiter, aber ich verstand wieder nur Gwäk-gwäk-gwäk . Der Junge horchte auf und nickte wissend. »Sie sind also immer noch da«, sagte er. »Gehen wir hinunter.« Ich war gerade in ausgesprochen kämpferischer Stimmung. »Soll das etwa ein Befehl sein?« Er sah mich finster an. »Du kannst Streit haben, wenn du willst«, sagte er und seine Stimme hatte auf einmal einen harten Unterton. »Aber du wirst nicht gewinnen, das verspreche ich dir.« »Ach wirklich?« Sein Tonfall kam mir ausgesprochen arrogant vor, und das reizte mich noch mehr. Wenn ich etwas auf den Tod nicht vertragen kann, dann sind es arrogante Typen, die sich für was Besseres halten.
»Ja«, nickte er. »Wirklich. « Ich verschränkte die Arme vor der Brust. »Wenn d u mich anfasst, werde ich schreien«, kündigte ich an . »Und ich kann laut schreien. Sehr laut. Das hört ma n noch drei Häuser weiter, Minimum. Und das ist kein e Theorie, sondern praktische Erfahrung. « »Dich anfassen?« Das schien ihn großartig zu amüsieren. »Ich muss dich nicht anfassen. Glaub bloß da s nicht.« Er sah sich um, deutete auf die Nachttischlampe meiner Mutter. »Achte mal auf dieses Ding dort , ja? « »Ja, und? « Es war überaus beeindruckend. Er bewegte sich nicht , es war nichts zu sehen und nichts zu hören. Ich wusste nicht, wie es geschah, aber es geschah . Der Porzellanfuß der Lampe zerplatzte in tausen d Scherben . Einfach so . »Wollen wir jetzt hinuntergehen?«, fragte der Junge .
Kapitel 3 |
Ich starrte ihn an und spürte plötzlich nichts mehr von wütender Kampfbereitschaft in mir, nur noch verschreckte Leere. Ich hatte angefangen Angst vor diesem Jungen zu haben. »Wie hast du das gemacht?«, fragte ich und meine Stimme hörte sich auf einmal merkwürdig rau an. »Ich habe es gemacht, das muss genügen«, sagte er. »Und ich kann es mit deinem Kopf machen, wenn es sein muss. Also, was ist – gehen wir jetzt hinunter?« Wortlos drehte ich mich um und ging vor ihm her, hinaus aus dem Schlafzimmer und die Treppe hinab, meine Knie weich wie Gummi. Ich hörte, wie er die Tür hinter uns zumachte, geradezu sorgfältig. Einen Moment lang schoss mir der Gedanke an Flucht durch den Kopf: losrennen und zur Haustüre hinaus und um Hilfe schreien, oder bei den beiden Polizeibeamten mit dem Hund und der Maschinenpistole Schutz suchen, oder in eine Telefonzelle rennen und die Notrufnummer wählen . . . Aber dann fiel mir ein, dass ich ja die Haustüre von innen versperrt hatte, und nicht nur das, ich hatte auch noch die Kette vorgelegt und den Schlüssel ans Schlüsselbrett gehängt. Ich würde nicht einmal genug Zeit haben, die Türe aufzuschließen, von allem anderen ganz zu schweigen.
Ich kann es mit deinem Kopf machen, wenn es sein muss . . .
Ich schrak zusammen, als unvermittelt eine überlaute Stimme draußen auf der Straße zu reden anfing. Natürlich, der Lautsprecherwagen! Er musste direkt vor unserem Haus gehalten haben, um seine Mitteilung an die Bevölkerung zum soundsovielten Male herunterzuleiern. Ich blieb am Ende der Treppe stehen. »Achtung, Achtung, hier
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