Die seltene Gabe
erwachsen dabei vorkam. Man bedenke: Ich hätte ohne weiteres nachts um drei nach Hause kommen können und niemand hätte auch nur die geringste Notiz davon genommen! Allein die Vorstellung war berauschend. Allerdings ist die Versuchung, derlei tatsächlich zu tun, sehr gering, wenn man morgens um halb acht in der Schule zu erscheinen hat. Ich weiß, dass etliche in meiner Klasse das anders gesehen hätten, aber deren Eltern hätten sich auch eher die Hand abhacken lassen als ihnen das Haus für zwei Wochen zu überlassen. Während ich so dahinfuhr, die Schultasche hinter mir auf dem Gepäckträger, und der Ärger über den blöden Streit mit Jessica allmählich nachließ, galten meine Gedanken dem Abend, der vor mir lag. Ich würde es mir mit einem großen Tablett voller leckerer Sachen auf der Couch gemütlich machen, und keiner würde mir ins Fernsehprogramm dreinreden. Kamen heute nicht ein paar gute Krimis? Bei diesem Stichwort fielen mir wie gesagt all die Polizisten auf, die die In nenstadt bevölkerten. Weiß-grüne Polizeiautos überall, Mannschaftswagen sogar. Ein Großaufgebot. Nicht ganz so, wie man es manchmal in amerikanischen Filmen sieht, aber für unser verträumtes Städtchen absolut ungewöhnlich. Unwillkürlich bremste ich ab. Ich bemühte mich besonders vorschriftsmäßig zu fahren, vor Zebrastreifen zu halten, vor dem Abbiegen deutlich Zeichen zu geben und all das, was sie einem immer beizubringen versuchen. Die Polizeistreifen sahen zwar nicht einmal in meine Richtung, aber sicher war sicher. Neben den uniformierten Beamten standen jeweils auffallend unauffällig gekleidete Zivilisten, die genauso wachsam die Blicke schweifen ließen. Kennt man ja aus dem Fernsehen. Großfahndung. Während ich das Stadtzentrum durchquerte, hörte ich irgendwo einen Lautsprecherwagen umherfahren und lautstark eine längere Mitteilung hinaustrompeten, aber um all die Hausecken herum war kein Wort zu verstehen. Und überhaupt beeilte ich mich jetzt nach Hause zu kommen, nicht nur um aus der Glotze Näheres zu erfahren, sondern um nicht am Ende unversehens in eine Schießerei zu geraten oder so etwas. Mir begegnete nichts, das in irgendeiner Weise gefährlich gewesen wäre, aber ich atmete trotzdem auf, als ich in unsere Straße einbog. Alles sah friedlich aus. Alles sah aus wie immer. Da war unser Haus, das erste von fünf weitgehend ähnlichen Reihenhäusern, die abwechselnd gelb und orange verputzt und stufenar tig gegeneinander versetzt sind. Es lag hinter dichten Hecken und Vorgartenbäumen versteckt, die Gardinen der Fenster im Obergeschoss ordentlich zurechtgezogen, die Jalousien halb heruntergelassen gegen die Sonne – was immer auch los sein mochte, hier war ich sicher. Dachte ich. Mir stockte der Atem, als zwei Polizisten um die Ecke bogen, gerade als ich vor dem Gartentor angelangt war. Der eine hielt ein Ungeheuer von einem Schäferhund an der Leine, der andere trug eine Maschinenpistole unter dem Arm, als sei das die selbstverständlichste Sache der Welt. Für ihn war es das vielleicht auch. Ich für meinen Teil machte, dass ich ins Haus kam. Normalerweise hätte ich mein Fahrrad ordentlich in der Garage untergestellt, aber heute lehnte ich es nur gegen die Hauswand, zerrte die Tasche vom Gepäckträger und kramte hastig meinen Schlüsselbund heraus. Und ich tat etwas, das ich sonst frühestens um dreiundzwanzig Uhr tue: Ich schloss die Haustüre von innen ab. Als Erstes rannte ich ins Wohnzimmer und schaltete den Fernseher an. Nichts. Vorabendserien, Talkshows, der übliche Müll. Auch auf den Nachrichtenkanälen nichts; dort ging es wie all die Tage zuvor schon um einen französischen Geheimdienstler, der irgendwelche Vorwürfe gegen seine Chefs erhob, was alle Journalisten in Aufruhr versetzte, mich aber nicht die Bohne interessierte. Ich schaltete das Ding wieder ab, marschierte in die Küche und drehte das Radio an. Hier war es dasselbe. Musik auf allen Sendern, wie immer, und die aktuellste Nachricht, die sich finden ließ, war ein Verkehrshinweis, ein Stau auf irgendeiner Autobahn. Niemand schien etwas zu wissen über irgendwelche gesetzwidrigen Vorgänge in einer süddeutschen Kleinstadt, Vorgänge immerhin, die eine regelrechte Polizeistreitmacht auf den Plan gerufen hatten. Ich drehte den Ton leiser und ging in die Garderobe. Dort gibt es ein kleines Fenster, durch das wir zum Beispiel hinausspähen, wenn jemand bei uns klingelt und wir sehen wollen, wer es ist, um eventuell so tun zu
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