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Die seltene Gabe

Die seltene Gabe

Titel: Die seltene Gabe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arena
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Bett ein zur Hälfte gepackter Koffer liegt, neben mir das Abiturzeugnis, das ich vorgestern überreicht bekommen habe, und darauf mein Reisepass. Puh. Jetzt wird es noch einmal hart, merke ich. Aber ich muss das erklären. Das eben erwähnte Telefonat ist inzwischen fast ein Jahr her. Armand und ich haben in dieser Zeit, dank Jessica, deren Telefon ich benutzen durfte, sehr oft und sehr lange miteinander gesprochen. Über sehr persönliche Dinge. Über uns. Über seine Zukunft und über meine. Und schließlich haben wir einen Entschluss gefasst und angefangen, einen komplizierten Plan zu entwickeln. Im Grunde geht es immer noch um den Satz, den ich damals auf meinen Garderobenspiegel geschrieben habe und dessen Ende ich weggewischt hatte: Ich passe auf mich auf, aber falls mir etwas passieren sollte . . .
    Die Sache ist die, dass man das nicht einfach wegwischen kann. Falls man nicht gerade beschlossen hat, blind und feig durchs Leben zu gehen, muss man eine Antwort finden auf die Frage, wie dieser Satz weitergehen soll. Und man kann die Frage, was man sich wünscht für die Zeit nach seinem Tod, nicht beant worten, ohne sich darüber im Klaren zu sein, was man sich wahrhaft wünscht für die Zeit davor . Ich habe also so lange nachgedacht, bis ich eine Antwort hatte. Meine Antwort. Ich weiß jetzt, wie der Satz weitergehen muss, jedenfalls für mich. Meine Eltern haben sich inzwischen zusammengereimt, dass ich damals, während sie auf Kreuzfahrt waren, jemanden kennen gelernt und mich in ihn verliebt habe. Von der Sache mit den telekinetischen Kräften allerdings glauben sie nach wie vor kein Wort. Ich habe versucht ihnen zu erklären, was ich tun will und warum, aber sie sind natürlich absolut dagegen. Ich verstehe sie, trotzdem können sie mich nicht daran hindern; ich bin volljährig und darf tun, was ich für richtig halte. Ich war in Versuchung, es heimlich zu tun und einfach zu verschwinden – aber das wäre erst recht feige gewesen. Der Abschied morgen früh wird etwas sein, das ich durchstehen muss. Vor meine Eltern hinzutreten und zu erklären, dass ich, trotz all ihrer gut gemeinten Einwände, gehen werde – ihnen weh zutun damit –, wird das Schwerste sein, was ich in meinem Leben bisher zu bewältigen hatte. Vielleicht aber nicht das Schwerste, das auf mich wartet in dem Leben, das noch vor mir liegt. Ich werde auf mich aufpassen. Natürlich. Aber falls mir etwas passieren sollte . . . dann ist es besser, es passiert mir, während ich ein Leben führe, das ich liebe. Ein Leben, von dem ich sagen kann, es ist meines .
    Ohne Zweifel kann einem eher etwas zustoßen, wenn man Risiken eingeht. Bloß sind wir nicht auf der Welt, um in möglichst großer Sicherheit zu verharren. Wir sind auf der Welt, um der Stimme unseres Herzens zu folgen. Unser Verstand und alles, was wir lernen, dient nur dazu, uns auf diesem Weg zu beschützen, so gut es eben geht. Das ist meine Antwort. Sie mag nicht für jeden passen, aber für mich passt sie. Ich werde Armand folgen in ein Leben, über das ich bis jetzt noch fast nichts weiß. Bin ich wahnsinnig, das zu tun? Das zu riskieren? Ich glaube nicht. Ich glaube, es wäre Wahnsinn, es nicht zu tun. Zuletzt ist es mir an Weihnachten gelungen, mit Mutter über mein Vorhaben zu sprechen. Sie konnte nicht verstehen, warum ich es wagen will, Armand in ein unbekanntes Land zu folgen, und auch nicht, warum niemand wissen darf, wohin ich gehe. Mir ist klar geworden, dass man das wahrscheinlich auch nicht kann, wenn man nicht die ganze Geschichte kennt und alles, was passiert ist. Deshalb habe ich angefangen zu schreiben. Ich habe alles so aufgeschrieben, wie es tatsächlich war, ohne etwas hinzuzufügen und ohne etwas Wesentliches wegzulassen, denn morgen geht die Reise los, und dann wird niemand mehr hier sein, der diese Geschichte erzählen könnte.

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