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Die seltene Gabe

Die seltene Gabe

Titel: Die seltene Gabe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arena
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können, als seien wir nicht da. Die beiden Polizisten patrouillierten jetzt auf der anderen Straßenseite. Der eine hatte das Funkgerät am Ohr, und während er sprach, drehte er sich um und schien in meine Richtung zu blicken. Ich duckte mich unwillkürlich, obwohl er mich durch die dichte Gardine unmöglich sehen konnte. Falscher Alarm, wie es aussah. Irgendwohin muss einer schließlich schauen, wenn er die Augen offen hat. Jetzt sah er in Richtung Wald, der unweit unserer Straße anfängt und bei Joggern und Hundebesitzern gleichermaßen beliebt ist, was immer wieder zu heftigen Streitereien führt. Was mochte bloß los sein? Mir kam der Gedanke, einfach hinauszugehen und die beiden Männer zu fra gen, aber dann sagte ich mir, dass ich alles noch früh genug erfahren würde. Spätestens morgen aus der Zeitung oder in der Schule, falls es nicht so wichtig war, dass es im Fernsehen kam. Ansonsten hatte ich selber nichts verbrochen, auch keine sachdienlichen Angaben zu machen – die ganze Angelegenheit ging mich schlicht und ergreifend überhaupt nichts an. Dachte ich wie gesagt. Mit einem tiefen Seufzer, der endlich den gemütlichen Teil des Abends einleiten sollte, hob ich meine Schultasche auf, stellte sie an die Treppe, wie ich es immer tat, um sie beim nächsten Gang in den ersten Stock mit in mein Zimmer zu nehmen, und zog die Straßenschuhe aus und Hausschuhe an. Als ich in die Küche kam, verlas der Radiosprecher gerade in rasender Geschwindigkeit eine Liste von Veranstaltungshinweisen für das kommende Wochenende, die überhaupt kein Ende nehmen wollte. Nervtötend. Ich schaltete den Kasten ab und machte mir Gedanken über mein heutiges Abendessen. Zu diesem Zweck schlenderte ich in die Speisekammer, musterte die dort säuberlich aufgereihten Vorräte an Dosen, Einmachgläsern und Packungen an Nudeln, Reis, Mehl und dergleichen, die Stange mit den aufgehängten geräucherten Würsten, die Flaschen mit Öl, Essig, Wein und Bier, das Regalfach mit den Tütensuppen und den Fertigspagetti und die Kiste im dunklen Eck, in der die Kartoffeln lagern. Beinahe automatisch griff meine Hand in die kleine Schublade, in der die Süßigkeiten aufbewahrt werden, und tastete nach der Erdbeerschokolade. Bloß war da keine Erdbeerschokolade. Verwundert nahm ich das Fach in näheren Augenschein. Höchst merkwürdig. Es lag eine unberührte Tafel Vollmilchschokolade darin, was in Ordnung und beruhigend war, aber ich glaubte mich deutlich zu erinnern, dass am Nachmittag zuvor noch fast eine halbe Tafel Erdbeerschokolade da gewesen war. Ich überlegte peinlich berührt, ob ich der Schokolade vielleicht irgendwann im Verlauf des gestrigen Tages den Garaus gemacht hatte, ohne es zu merken. Soll ja schon vorgekommen sein. Aber andererseits hätte dann zumindest noch das Papier irgendwo sein müssen, oder? Tatsache blieb, dass die Schokolade nicht mehr da war. Sie war auch nicht irgendwo anders in der Speisekammer. Ich durchsuchte die Fächer und Regale, sah auf dem Boden nach und sogar in der Schublade mit den Gewürzen und fand zwar nicht die Schokolade, stieß dafür aber auf etwas anderes, noch viel Merkwürdigeres: Es fehlten auch vier Scheiben Vollkornbrot. Heute Morgen hatte ich die Scheiben in der Tüte gezählt, um festzustellen, ob ich noch Brot kaufen musste, und da waren noch sieben Scheiben da gewesen. Jetzt waren nur noch drei Scheiben da. Es gibt Situationen, in denen man leicht bereit ist an seinem klaren Verstand zu zweifeln, und das hier war so eine Situation. Ich zählte noch einmal nach, natürlich mit demselben Ergebnis. Man kann im Allgemeinen bis drei zählen und auch bis sieben und überdies beides voneinander unterscheiden, wenn man die elfte Klasse eines gewöhnlichen Gymnasiums besucht. Andererseits hatte ich noch nie davon gehört, dass sich Vollkornbrot bisweilen in Luft auflöst. Da ich schon einmal dabei war, überprüfte ich die übrigen Vorräte ebenfalls, zumindest die, von denen ich ungefähr wusste, wie viel davon da zu sein hatte. Das Ergebnis war außerordentlich seltsam: Von drei Tüten Milch waren nur noch zwei da, die Zahl der Ringe harter Blutwurst war von fünf auf vier gesunken, mindestens drei Flaschen Apfelsaft fehlten, und der Camembert und die Trauben, die eigentlich auf meinem heutigen Fernsehtablett eine Hauptrolle hatten spielen sollen, waren ganz und gar verschwunden. Ich muss ein ausgesprochen belämmertes Gesicht gemacht haben, als ich mit dieser Bestandsaufnahme fertig war.

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