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Die seltene Gabe

Die seltene Gabe

Titel: Die seltene Gabe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arena
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dreinblickender Mann mit einem walrossartigen Schnauzbart, schien geradezu auf uns gewartet zu haben. »Guten Abend«, sagte Armand. »Wir wollen nach Dresden, heute Abend noch.« Der Schnauzbart nickte und warf einen kurzen Blick auf den Fahrplan, den er neben sich hängen hatte. »Wenn Sie sich beeilen, geht ein Zug jetzt gleich um einundzwanzig Uhr zwanzig von Gleis neun. Ansonsten um dreiundzwanzig Uhr acht von Gleis sechzehn.« »Wie unterscheiden die sich?«, fragte Armand. »Der späte kommt um dreiviertel zehn in Dresden an, der andere um kurz vor acht Uhr morgens«, erwiderte der Mann. »Ansonsten sind beides Nachtzüge, das heißt, Sie können auch Schlaf-oder Liegewagen buchen.« Ich sah, wie Armand aufhorchte. Ich horchte auch auf. Das wurde ja immer schöner. Wenn der glaubte, dass ich mit ihm in ein Schlafwagenabteil . . . Ich trat ihn warnend vors Schienbein. »Wie viel kostet das Zuschlag?«, fragte Armand unbeeindruckt. Ich funkelte ihn wütend an, aber er schien es nicht zu bemerken. Der Mann hinter dem Schalter nannte ihm die diversen Zuschläge für Liegewagen mit sechs Sitzen und Schlafwagen mit drei, zwei oder einem Bett pro Abteil, klapperte währenddessen auf seinem Computer herum und meinte frohgemut: »In dem Zug jetzt gleich hätte ich gerade noch ein Schlafwagenabteil für zwei Personen frei.« Das war zu viel. Ich beugte mich zu Armand hinüber und zischte ihm ins Ohr: »Wage es nicht, ein Schlafwagenabteil zu buchen! Ich werde zur Furie, das verspreche ich dir.« Armand zuckte zurück, als hätte ich ihm das Ohr abgebissen. Er sah mich mit teetassengroßen Augen an, ein Bild vollkommener Verwunderung. Ich erwiderte seinen Blick voller Ingrimm, drehte mich dann weg, verschränkte die Arme und sah einfach nicht mehr hin. »Ähm«, sagte Armand zögernd zu dem Bahnangestellten, »danke, ich, ähm . . . Ich glaube, das übersteigt im Moment unsere finanziellen Möglichkeiten. Wir nehmen nur die Karten. Einfache Fahrt.« »Es gibt in jedem Nachtzug auch ganz normale Abteilwagen«, meinte der Mann mit dem Schnauzbart beruhigend und ließ seinen Drucker losrattern. »Gute Fahrt«, wünschte er noch, nachdem er kassiert und Armand die Tickets hingeschoben hatte. Wir gingen. Genau wie vorhin beachteten uns die wachsamen Polizeibeamten überhaupt nicht, als wir mit gespielter Unbekümmertheit an ihnen vorbei auf den Bahnsteig neun schlenderten. Lauter »gute« Ideen schossen mir durch den Kopf wie zum Beispiel demonstrativ »unauffällig« vor mich hin zu pfeifen oder unmittelbar vor den Polizisten einen epileptischen Anfall vorzutäuschen . . . Alles Blödsinn. Auf eine merkwürdige Weise kamen mir diese Gedanken überhaupt nicht vor wie meine eigenen, eher so, als empfinge ich einen störenden Radiosender. »Es wäre sowieso zu teuer gewesen«, sagte Armand beiläufig. »Das mit dem Schlafwagen, meine ich. Das Geld hat gerade für die normalen Fahrkarten gelangt.« »Na großartig«, meinte ich sarkastisch. »Dann hat das Geiseldrama also in Dresden wegen Geldmangels ein Ende.« Über uns legte eine blecherne Lautsprecherstimme los. »Auf Gleis neun hat Einfahrt der Nachtzug NZ 41903 nach Dresden«, ließ sie sich vernehmen, »über Schorndorf, Schwäbisch Gmünd, Aalen, Ellwangen, Crailsheim, Ansbach, Nürnberg, Halle und Leipzig, fahrplanmäßige Abfahrt ist 21 Uhr 20. Die Wagen der ersten Klasse finden sich in den Abschnitten A und B. Bitte Vorsicht bei der Einfahrt.« Der Zug war noch nicht zu sehen dort draußen in der Dunkelheit, wo sich Lichter, Lampen, Signale und Scheinwerfer in einem filigranen Netzwerk von Schienen und Stromleitungen spiegelten. Doch alle Leute starrten erwartungsvoll in die Richtung, aus der er kommen würde. Ich warf einen kurzen Blick zurück. Die beiden Polizisten, die dieses Gleis im Auge hatten, standen immer noch da, aber nun hatte der eine sein klobiges Funkgerät am Ohr und schien einer interessanten Durchsage zu lauschen. Ich sah wieder in die andere Richtung. Jetzt war in der Ferne etwas zu sehen, das aussah wie eine Lokomotive. »Achtung«, flüsterte Armand da. »Ganz ruhig bleiben jetzt.« Ich sah ihn ganz harmlos an. »Wieso? Ich bin doch die Ruhe selbst.« »Dann dreh dich mal ganz unauffällig um.« Ich drehte mich um, alles andere als unauffällig, und sah, dass die beiden Polizisten sich in Bewegung gesetzt hatten. Mehr noch, es sah ganz so aus, als kämen sie zielstrebig auf uns zu, die Hände griffbereit an ihren Revolvertaschen. »Meinst du, die

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