Die seltene Gabe
blätterte um. Ich musterte ihn unauffällig. Er trug einen ordentlichen Anzug mit Weste und Krawatte, an dem Haken über ihm hing ein heller Frühjahrsmantel, und neben sich hatte er einen abgenutzt aussehenden ledernen Aktenkoffer liegen und darauf wiederum die Teile der Zeitung, die er gerade nicht las. Ich spähte auf die Schlagzeilen. Mit einem Gefühl, als würde ich plötzlich aufwachen, erkannte ich auf einem großen, deutlichen Foto auf der unteren Hälfte der Titelseite – Armand! Unwillkürlich hielt ich die Luft an. Ich konnte deutlich die Schlagzeile darüber lesen: Jugendlicher Gewalttäter entwichen – Bevölkerung dringend um Mithilfe gebeten.
Ich presste nervös die Lippen zusammen. Das war vielleicht meine Chance. Vielleicht würde der Mann Armand irgendwann im Verlauf der Fahrt erkennen, trotz der goldlockigen Haare, die er jetzt trug und die ihm zwar erstaunlich gut standen, wenn man bedachte, dass es eigentlich eine Frauenperücke war, die aber doch, wenn man genau hinsah, unecht schimmerten im Licht der Neonröhren, die das Abteil beleuchteten. Vielleicht würde er ihn erkennen und Alarm schlagen, so tun, als müsse er auf die Toilette, und von dort aus mit dem Handy die Polizei anrufen . . . Und dann? Armand würde sicher entkommen. Er würde den Zug telekinetisch anhalten und aus dem Fenster springen, Hubschrauber abstürzen lassen und Bluthunde aus der Ferne erwürgen, Pistolenkugeln von sich ablenken und Autos in Brand setzen, alles kein Problem. Auf jeden Fall würde ich ihn los sein. Ich würde in aller Ruhe an irgendeinem Bahnhof aussteigen und den nächsten Zug nach Hause nehmen. Der Mann im Anzug faltete den Sportbericht zusammen, legte ihn auf die Nachrichten und griff nach dem Wirtschaftsteil. Aha, dachte ich und kam mir sehr clever vor, jemand, der eine Zeitung von hinten nach vorn liest. Zuerst die Todesanzeigen, zum Schluss die Nachrichten. Umso besser, denn dann bekam er Armands Foto erst noch zu Gesicht. Und vielleicht, vielleicht kam es ihm bekannt vor, und dann . . . Ich warf einen kurzen Blick zu Armand hinüber. Ein Kribbeln im Magen. Wie immer wenn ich aufgeregt bin und es verbergen will. Er sah gelangweilt aus dem Fenster, hinaus in eine Nacht voller vorbeihuschender Schatten. Ich beobachtete die anderen Fahrgäste, die größtenteils vor sich hin dösten, Bücher lasen, strickten oder sich leise unterhielten. Immer wieder kontrollierte ich den Herrn uns gegenüber und wie weit seine methodische, gründliche Lektüre des Wirtschaftsteils bereits gediehen war. Oh, nur noch drei Seiten. Schneller, mein Herr! Müssen Sie denn wirklich jeden einzelnen Artikel lesen? Die Firmen gehören Ih nen doch sowieso nicht, sonst würden Sie erster Klasse reisen und dort Ihre Zeitung lesen, und nicht diesem jungen Mann neben mir gegenübersitzen, diesem dringend gesuchten Gewaltverbrecher. Schneller, schneller! Ich zuckte zusammen, als ich so unvermittelt aus meinen vergeblichen Bemühungen gerissen wurde, irgendetwas mit der Kraft meines Geistes zu beeinflussen, und sei es nur das Leseverhalten eines Mitreisenden. Der Schaffner war ein untersetzter Mann in blauer Uniform, mit lockigem grauem Haar und kleinen Augen, und wie er den Gang entlangkam und suchend nach rechts und links blickte, sah er aus, als ersehne er nach einem langen, harten Tag nur noch den Feierabend. »Du hast die Karten«, stieß mich Armand an. So nervös, als hätte man mich bei einer unrechten Handlung erwischt, kramte ich in meiner Tasche nach den Fahrkarten, fand sie schließlich und reichte sie dem Schaffner. Der bedachte mich mit einem müden Lächeln, musterte die Karten blinzelnd und stempelte sie dann schwerfällig ab. Mit einer matten Bewegung gab er sie mir wieder zurück und setzte dann seinen Weg fort, sein »Gutentagzugestiegenediefahrscheinebitte!« wie eine Beschwörung herunterleiernd. Ich verstaute die Karten wieder, dabei unauffällig den Mann mit der Zeitung musternd. Er war auf der vorletzten Seite des Wirtschaftsteils angelangt. Jeden Moment musste er nach der Titelseite greifen. Die Schmetterlinge in meinem Bauch fingen an zu flattern. Armand starrte jetzt so intensiv aus dem Fenster, als suche er etwas Bestimmtes. Als der Mann auf die letzte Seite Wirtschaft umblätterte, stand Armand plötzlich auf, presste das Gesicht gegen die Scheibe und hielt sich die Hände rechts und links des Kopfes hin wie Scheuklappen, wohl um das Licht der Wagenbeleuchtung abzuschirmen. Ich fragte mich, was es da
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