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Die seltene Gabe

Die seltene Gabe

Titel: Die seltene Gabe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arena
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draußen Interessantes zu sehen geben mochte. Polizei? Militär? »Marie, komm mal her, bitte«, wandte er sich unvermittelt an mich. »Ich glaube, jetzt kommt gleich etwas, das ich dir unbedingt zeigen möchte.« Ich verstand überhaupt nichts. Kannte Armand die Gegend hier etwa? Das hatte vorhin anders geklungen. Und seit wann sagte er Bitte zu mir? Ich trat neben ihn und versuchte, etwas zu erkennen, aber draußen war alles stockfinster. Der Mann legte den Wirtschaftsteil ordentlich zusammen. »Kannst du etwas sehen?«, wollte Armand wissen. »Nein«, erwiderte ich. »Wieso, was soll ich denn sehen?« Der Mann legte den Wirtschaftsteil beiseite und griff nach dem Nachrichtenteil, dem Teil mit dem Titelblatt, dem Titelblatt mit dem Fahndungsfoto . . . »Die Glasscheibe stört. Sie ist von außen zu schmutzig«, meinte Armand und wandte sich an den Herrn im Anzug: »Hätten Sie etwas dagegen, wenn ich das Fenster kurz öffne, nur für eine halbe Minute? Ich möchte ihr gern etwas zeigen und . . .« »Von mir aus gerne, wenn’s wirklich nur kurz ist«, erwiderte der Herr im Anzug und entfaltete den Nachrichtenteil. In genau diesem Augenblick zog Armand das obere Schiebefenster herunter. Ein kalter Luftzug schoss herein, und der schien es zu sein, der dem Mann jäh die Zeitung aus der Hand riss und sie mit sich fort trug, hinauf und hinaus zum Fenster, hinein in die Nacht, auf Nimmerwiedersehen. Weg war sie, die Zeitung mit dem verräterischen Bild. Mit einem Laut des Erschreckens hatte Armand das Fenster sofort wieder zugerammt. Er bat den Mann, der ganz perplex dasaß und fassungslos zwischen seinen Händen und dem Fenster hin und her blickte, eindringlich um Entschuldigung, beteuerte, dass es ihm Leid täte, dass er das aber wirklich nicht hätte ahnen können . . . »Macht nichts, macht nichts«, brabbelte der Mann. »Es war sowieso nur der Teil mit den Nachrichten, die sehe ich ja noch im Fernsehen. Es macht nichts.« Und kopfschüttelnd fügte er hinzu: »Ich muss sagen, das ist mir jetzt auch noch nie passiert!« Eine Station später stieg der Mann aus, nachdem er die restlichen Zeitungsseiten sorgsam in seinem Köfferchen verstaut, seinen Mantel angezogen und sich höflich von Armand und mir verabschiedet hatte. Als der Zug wieder anfuhr, raunte Armand mir zu: »Das mit der Zeitung, das war ich. Auf dem Titel war ei n Foto von mir abgedruckt, weißt du? « Ich sah ihn nur an, konnte nichts sagen. Ich wusste, o h ja. Und wie ich wusste. Ich kam mir vor wie betrogen .

Kapitel 6 |
    Mit drei Minuten Verspätung, um acht Minuten vor neun, kamen wir in Stuttgart an. Ich war noch nie mit dem Zug nach Stuttgart gekommen und spähte deshalb neugierig aus dem Fenster, während der Zug durch die nächtliche Stadt auf den Hauptbahnhof zurollte. Ich sah breite, beleuchtete Straßen und zahllose Autos, Grünanlagen, Fabrikanlagen mit finsteren Hinterhöfen, ein großes Kino direkt an den Gleisen und den Fernsehturm am Horizont, der den Strahl seines starken Scheinwerfers über den Nachthimmel rotieren ließ. Dann erreichte der Zug den Bahnhof, auf dessen Bahnsteigen ein buntes Treiben herrschte. Menschen wimmelten durcheinander, Koffer und Taschen in den Händen, Zigaretten rauchend, miteinander redend, abwartend, vorwärts drängend, Gepäckwagen vor sich herschiebend, Ausschau haltend. Manche trugen Mäntel oder dicke Jacken, andere nur flippige Hemden, Männer in grauen Geschäftsanzügen warteten neben dunkelhäutigen Frauen in Saris, gebeugte Großmütter mit Stock neben Kaugummi kauenden Walkmanhörern. Und überall standen Polizisten. Ich wusste wieder, wo ich war. Ich warf Armand ei nen fragenden Blick zu, doch der hatte die Polizisten längst entdeckt. »Ganz unbefangen bleiben«, murmelte er. »Hat schon mal geklappt.« Unser Zug endete in Stuttgart, das hieß, dass alle ausstiegen und wir uns mit dem Strom in Richtung Ausgang treiben lassen konnten, als ginge uns das alles nichts an. Armand brachte die Frechheit auf, mit mir fast unmittelbar neben zwei aufmerksam Ausschau haltenden Polizeibeamten vorbeizugehen, und es klappte: Die beiden Männer standen da in der Menschenflut, ignorierten die ihnen am nächsten befindlichen Leute und richteten ihre ganze Aufmerksamkeit auf Passanten, die weiter entfernt waren. Wahrscheinlich gingen sie davon aus, dass ein Flüchtender versuchen würde, der Polizei so weit wie möglich aus dem Weg zu gehen. »Es hängt jetzt alles davon ab, wie viel Pierre aus meinen Gedanken

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