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Die seltene Gabe

Die seltene Gabe

Titel: Die seltene Gabe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arena
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wollen zu uns?«, fragte ich. »Ich hoffe nicht«, murmelte Armand. »Wenn nur der Zug schon da wäre!« Nervtötend langsam kam er hereingerollt, zischend, fauchend, zuerst der Koloss von Lokomotive, weiß und rot lackiert und so gewaltig, dass der Boden zitterte beim Vorbeifahren. Dann die langen Wagen, und in jedem der erleuchteten Wagenfenster war für einen Augenblick eine Momentaufnahme der Menschen dahinter zu sehen, sitzend, im Aufstehen begriffen, Gepäck aus der Ablage holend. Mit kreischenden Bremsen wurde der Zug immer langsamer, während Schlafwagen, Speisewagen und ErsteKlasse-Abteile vorüberzogen. Und dann hörten wir plötzlich eine sonore, geschäftsmäßige Stimme neben uns. »Guten Abend, Polizei.« Eine silberne Marke blitzte, der andere Beamte stand einige Schritte entfernt, die Hand immer noch am Revolver. »Dürfte ich Sie bitten, sich auszuweisen?« »Meinen Sie uns?«, fragte Armand und es gelang ihm, seine Stimme so klingen zu lassen, als amüsiere ihn diese Idee köstlich. »Jawohl, Sie und die junge Dame hier.« Armand plusterte die Backen auf. »Hören Sie, muss das sein? Sie sehen doch, dass unser Zug gleich abfährt und . . .« »Es ist leider unbedingt erforderlich«, unterbrach der Mann mit leidenschaftsloser Stimme. Für ihn war es seine tägliche Arbeit, und wir waren die Leute Nummer tausend, mit denen er heute eine derartige Diskussion führte. »Ihren Personalausweis bitte.« »Ich habe meinen Ausweis nicht dabei«, brummte Armand. »Sie sind vom sechzehnten Lebensjahr an verpflichtet, sich jederzeit ausweisen zu können. Das wissen Sie doch, oder?«, belehrte er uns. »Haben Sie sonst etwas, Führerschein, Reisepass?« »Nein, nichts.« »Dann muss ich Sie bitten, mitzukommen zur Feststellung Ihrer Personalien«, ordnete der Beamte an. »Und Sie auch, bitte«, sagte er an mich gewandt. »He«, begehrte Armand trotzig auf. »Und unser Zug?« »Es fahren weitere Züge.« »Ich? Wieso? Ich kann mich ausweisen!«, rief ich und wollte anfangen, meinen Personalausweis aus der Tasche zu nesteln. Irgendwo ganz unten musste er sein. »Danke, ich muss Sie trotzdem bitten, beide mit uns zu kommen«, wehrte der Mann ab. Er machte etwas, das er vermutlich für eine einladende Handbewegung hielt. »Ich gehe nicht«, rief Armand. »Ich lasse mir das nicht gefallen! Das ist Willkür! Polizeiterror!«
    »In dem Fall muss ich Sie vorläufig festnehmen, mein Herr«, entgegnete der Beamte ungerührt, leicht verärgert über den widerspenstigen jungen Schnösel. »Bitte, erregen Sie kein Aufsehen und kommen Sie mit.« Aufsehen hatten wir längst erregt. Die Abteilfenster in unserer Nähe waren geöffnet, Köpfe ragten heraus, Augen glotzten neugierig, Leute blieben stehen und verfolgten, was vor sich ging. Wir setzten uns in Bewegung, Armand sichtlich widerwillig, ich von einer merkwürdigen Gefühlsmischung aus Erleichterung, Enttäuschung und Scham erfüllt. Der eine Beamte ging vor uns, beschäftigt damit, die Leute zum Weitergehen anzuhalten, der andere hinter uns, wahrscheinlich immer noch schießbereit. Ich kam mir vor wie eine Verbrecherin, eine Kindsmörderin, als wir da so zwischen den beiden Polizisten gingen, von allen angestarrt wie Missgeburten. Auf einmal verstand ich, warum manche Leute auf dem Weg in den Gerichtssaal ihr Gesicht verdeckten. Armand hatte ein undurchdringliches Gesicht aufgesetzt. Es war mir rätselhaft, wieso er nichts unternahm. Es ging von der Mitte des Bahnsteigs hinab in eine Unterführung, die mir bis jetzt überhaupt noch nicht aufgefallen war. Über dem unteren Ende der schmalen Treppe hingen zwei Wegweiser, einer nach rechts mit der Aufschrift »Gleis 1 bis 8, S-Bahn«, der andere nach links mit der Aufschrift »Gleis 11 bis 16«, und in diese Richtung wurden wir gelotst. Das kalte Licht müder Leuchtstoffröhren fiel auf einen kahlen Betonboden und auf Wände, die mit olivgrünen Metallplatten verkleidet waren. Kaum jemand war hier unten unterwegs. Ganz vorne, am Ende des Ganges, erspähte ich eine große Milchglastüre. Sie sah sehr danach aus, als befänden sich dahinter die Diensträume des Bahnhofs, in die man uns vermutlich zu bringen gedachte. Der Beamte vor uns löste sein Funkgerät vom Koppelgürtel und begann, einige der Knöpfe daran zu drehen, während wir so den Gang entlanggingen. Vermutlich wollte er unsere Festnahme melden. Doch dazu kam er nicht mehr. Mit einem plötzlichen Aufstöhnen griff er sich an den Kopf, geriet ins Taumeln und im

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