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Die seltene Gabe

Die seltene Gabe

Titel: Die seltene Gabe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arena
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erfahren hat, bevor ich ihn, äh, ausschalten konnte«, erklärte Armand halblaut, als wir die Posten passiert hatten. »Dass wir den Zug nach Stuttgart nehmen würden, habe ich in dem Moment selber noch nicht gewusst; das können sie also nur vermuten.« »So schwer zu vermuten ist das aber nicht. Immerhin war das der nächste Zug, der ging«, erwiderte ich. Ich dachte mit Grauen zurück an diese Begegnung. »Und auf jeden Fall weiß Pierre, dass du jetzt blond bist; er hat dich schließlich gesehen.« Und mit plötzlich aufkeimender Hoffnung setzte ich hinzu: »Und mich auch. Mich hat er auch gesehen.«
    »Hmm«, machte Armand vage. Wir bahnten uns unseren Weg quer durch die riesenhafte Bahnhofshalle. Überall waren Leuchtreklamen, Hinweisschilder, Werbetafeln, Zeitschriftenkioske und Schnellimbissstände, ein sinnverwirrendes Durcheinander sich mit Gepäck in allen Formen und Farben abschleppender Menschen. Armand blieb vor einem Glaskasten stehen, in dem ein Fahrplan hing, und studierte die Abfahrtszeiten. »Um neun Uhr zwanzig fährt ein Zug nach Dresden«, stellte er fest und warf einen Blick auf die riesige Uhr an der Stirnseite der Halle. »Das ist in einer halben Stunde. Den nehmen wir.« »Wir?«, schnappte ich. »Wieso wir? Hast du nicht verstanden, was ich gesagt habe? Dein Pierre hat mich gesehen! Das heißt, er weiß, dass du nicht mehr allein unterwegs bist. Es bringt dir nichts mehr, mich mitzuschleppen. Ich nütze dir nichts mehr als Tarnung.« »Ja, aber vielleicht als Geisel«, erwiderte Armand ungerührt und packte mich am Arm. »Komm, wir brauchen Fahrkarten.« Mir schwindelte, als ich neben Armand herging, der sich zielstrebig den Weg zu den Fahrkartenschaltern bahnte. Nach Dresden wollte er mich verschleppen! Und dort mochte ihm einfallen, mit mir nach Prag weiterzufahren oder nach Warschau oder nach Wladiwostok oder sonst irgendein Ende der Welt. Das würde ich auf keinen Fall mitmachen, sagte ich mir. Ich sah mich um. Wenn ich jemals eine Gelegen heit zur Flucht gehabt hatte, dann doch wohl hier und jetzt, oder? Ich brauchte mich bloß loszureißen und schreiend fortzulaufen . . . Das würde Armand ganz schön in Schwierigkeiten bringen. Und zu Recht, dachte ich wütend. Bringt er mich vielleicht nicht in Schwierigkeiten? Aber ich brachte es irgendwie nicht über mich. Zwar wusste ich, dass das hier kein netter, kleiner Ausflug war, sondern unter Umständen eine Sache auf Leben und Tod... Aber zugleich kam es mir wie völliger Quatsch vor, das zu denken. Irgendwie glaubte ich nicht, dass Armand mir wirklich etwas tun würde. Du meine Güte, er war so alt wie ich, ein eigenartiger Junge mit einer eigenartigen Fähigkeit, aber eben doch nur ein Junge. Er hätte mein Mitschüler sein können, oder jemand, den man im Schüleraustausch mit unserer französischen Partnerschule kennen lernte. Bis jetzt war es nichts weiter als ein Ausflug. Zwar nicht unbedingt wirklich nett, aber, zum Kuckuck, es fühlte sich nicht im Mindesten gefährlich an! Durch einen großen Torbogen und an einem Blumengeschäft vorbei ging es hinunter in eine andere Halle zu den Fahrkartenschaltern. Ich musterte Armand von der Seite, während wir die Rolltreppe hinabfuhren. Vielleicht als Geisel , hatte er gesagt. Würde er im Stande sein, mir etwas anzutun? Ich horchte in mich hinein, aber da war keine Angst. Ich war geradezu abartig ruhig. Ich sah Armand an und musste Dinge denken wie, dass er zum Friseur gehen, ein einiger maßen modisches Hemd anziehen und vor allem diesen albernen Oberlippenflaum wegrasieren sollte. Dass er dann womöglich richtig gut aussehen würde. Genau in dem Moment, in dem ich das dachte, drehte er sich zu mir um und hielt mir mit einer barschen, fordernden Geste die Hand hin: »Gib mir den Geldbeutel!« Arsch, dachte ich. Ich wartete noch die drei Sekunden, bis wir von der Rolltreppe herunter und nicht mehr allen Leuten im Weg waren, wühlte dann den Geldbeutel aus der Tasche und pfefferte ihn ihm in die ausgestreckte Hand. Er öffnete ihn, blätterte die Geldscheine durch, die noch darin waren, und schien zufrieden zu sein mit seiner Beute. Dieser blöde Kerl! Ich hatte das Gefühl, mein Blut sieden zu spüren. Und was sollte eigentlich werden, wenn mein Geld aufgebraucht war, hatte er sich das schon einmal überlegt? Jede Wette, dass nicht. Obwohl draußen im Bahnhof der Bär tanzte, war im Reisezentrum verblüffend wenig los. Ein Schalter war frei, der Angestellte dahinter, ein junger, fröhlich

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