Die seltene Gabe
telekinetisch hinfassen musste, damit so ein Wagen plötzlich eine unerklärliche Motorpanne hat und stehen bleibt. Ich habe jeweils gewartet, bis der Fahrer die Motorhaube aufmachte und ratlos dreinblickte, dann bin ich raus, kam daherspaziert und fragte, ob ich helfen könne. Das hat keiner abgelehnt. Ich habe ein wenig am Motor herumgefingert, etwas von ›Aussetzern‹ und ›Feuchtigkeit‹ gemurmelt, und schließlich gesagt, er solle es noch mal probieren, ihn anzulassen. In Wirklichkeit habe ich natürlich einfach nur losgelassen. Die Leute waren immer heilfroh, und wenn ich sie darum gebeten habe, mich ein Stück mitzunehmen, haben sie mich oft noch zum Essen eingeladen, sind Umwege gefahren, um mich dorthin zu bringen, wo ich hinwollte, oder haben mir Geld aufgedrängt. Kurzum, es war die ideale Methode«, schloss Armand und grinste selbstzufrieden. »Und warum hast du nicht einfach so weitergemacht?« »Weil sie auf die Idee gekommen sind, meine Beschreibung im Radio durchzugeben.« Er seufzte. »Ich saß gerade neben einem netten, alten Mann, einem Kohlefahrer, als die Warnung vorgelesen wurde. Es war schrecklich. Er hörte sich die Durchsage an, in der von einem gemeingefährlichen jugendlichen Gewalttäter die Rede war, und schüttelte traurig den Kopf: Was doch alles Schlimmes in der Welt passiere. Ich wollte schon aufatmen, als ich sah, wie er erstarrte, mich ansah und zu schreien anfing . . . Schrecklich.« Einen Augenblick sah er betroffen drein, dann fügte er mit einer wegwerfenden Handbewegung hinzu: »Na ja, er hatte natürlich keine Chance. Ich schaltete ihn und das Auto aus und machte, dass ich fortkam.« Ich schluckte. »Und dann?« »Dann habe ich erst mal keine Autos mehr benutzt. Ich habe versucht mich in den Wäldern zu verstecken, aber das ging nicht lange. Also bin ich in leer stehende Häuser eingebrochen, habe Kleidung, Essen und Geld gestohlen, und schließlich bin ich auf die Idee gekommen, über die Grenze zu gehen, mit dem Zug. Ich dachte, vielleicht trauen sie sich nicht, mich nach Deutschland zu verfolgen. Ein Irrtum. Ich habe es wieder von Dorf zu Dorf probiert, mit Bussen meistens, aber das hat nicht mehr so gut funktioniert wie am Anfang. Im Gegenteil, sie haben mich regelrecht eingekreist.« Er hielt inne. »Na ja, und den Rest kennst du ja.« Ich sah ihn an. Für einen Moment war aller Anschein von Unbesiegbarkeit und Überlegenheit von ihm abgefallen, und er sah weich und verletzlich aus. »Hast du keine Angst, dass sie in Dresden am Bahnhof schon auf dich warten?« Er schüttelte den Kopf. »Sie würden nicht so lange warten. Wenn sie auch nur einen Verdacht hätten, wären sie längst im Zug.« »Und dann?« »Sie haben keinen Verdacht. Sie halten mich für einen Idioten. Für einen Idioten mit einer beinahe magischen Fähigkeit, aber für einen Idioten.« Es klang bitter. Ich begann, mich zu fragen, was ich alles nicht wusste über diesen Jungen. Was er mitgemacht haben musste in diesem Institut. Ich versuchte aufmunternd zu lächeln. Ich weiß nicht, wie gut ich so etwas kann. In dem Augenblick hatte ich das Gefühl, nicht sehr gut. »Wenn wir in Dresden sind«, sagte ich, beseelt von dem Wunsch, ihm zu zeigen, dass mir sein Wohl am Herzen lag, »wäre es gut, wenn wir noch etwas Geld besorgen könnten, sodass ich mit dem Zug heimfahren kann und nicht gezwungen bin, mich auf einer Polizeiwache zu melden. So erfahren sie nicht, wohin du verschwunden bist.« Armand hüstelte. »Du setzt so beeindruckend selbstverständlich voraus, dass du von Dresden aus wiede r heimfahren wirst. « Ich stutzte. »Wieso? Es war abgemacht, dass ich dic h bis Dresden begleite und dann . . . « »Und dann? Dann sieht man weiter. « »Jetzt mal langsam«, begehrte ich auf. »Bilde dir blo ß nicht ein, dass ich mich von dir bis in alle Ewigkei t mitschleppen lasse. « »Und was willst du dagegen machen? « »Davonlaufen, ganz einfach. Bei der nächsten sic h bietenden Gelegenheit.« Sehr schlau von mir, das ausdrücklich anzukündigen . »Klar. Bloß wird sich keine Gelegenheit bieten. « »Denkst du. Dabei hätte ich mich heute Abend mehrere Male mit Leichtigkeit absetzen können. « »Ach. Wann denn zum Beispiel? « »Zum Beispiel, als wir zur S-Bahn gerannt sind. Zu m Beispiel am Hauptbahnhof. Ich hätte mich bloß irgendeinem Polizisten in die Arme werfen müssen. « Armand hob verwundert die Augenbrauen. »Ça alors ! Und warum hast du es nicht getan? « Ich wurde plötzlich unsicher.
Weitere Kostenlose Bücher