Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die seltene Gabe

Die seltene Gabe

Titel: Die seltene Gabe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arena
Vom Netzwerk:
Zauberkunststücke mir so unheimlich imponiert hätten?!« Ich lachte spöttisch auf, mit einem Lachen wie eine Kettensäge. »Ganz bestimmt nicht. Meine Güte, wenn du wüsstest, wie du mich anwiderst, du . . . du Monstrum!« Die Stille war wie eine Explosion. Erschrocken presste ich die Hand vor den Mund. Ich hätte mir die Zunge abgebissen, wenn ich damit diese Worte hätte ungesagt machen können. Auf einmal war alle Wut verflogen wie nie gewesen. Ich saß nur da und starrte ihn entsetzt an. Armand war bei meinem Ausbruch zurückgeprallt, als hätte ich ihn geohrfeigt. Alles Blut war aus seinem Gesicht gewichen. Er saß da, starrte mich aus unnatürlich weiten Augen an, regungslos, wie gelähmt – bis auf ein kaum merkliches Zittern, das an seinem Kinn entlangkroch. Es war klar, ich hatte ihn tödlich getroffen. Ich sah ihn an wie ein Kaninchen die Schlange und in meinem Gehirn kreiste dröhnend nur der eine Gedanke: Jetzt bringt er mich um! Doch dann, urplötzlich, mit einem Knall, der mich zusammenzucken ließ wie ein elektrischer Schlag, zerbarsten die beiden Spiegel unter den Gepäckablagen. Ich zog den Kopf ein, als tausend Splitter klirrend und raschelnd auf mich herabregneten, während Armand sich schwer aus seinem Sitz hochstemmte, auf die Abteiltür zutaumelte, sie mit ungelenken Bewegungen aufriss und auf dem Gang verschwand, unverständliche Wortfetzen vor sich hin keuchend.
    Ich saß da wie betäubt, griff nach einer Scherbe, legte sie wieder hin, wusste nicht, was ich tun sollte. Noch nie im Leben hatte ich mich so geschämt. Wenn die Erde sich aufgetan und mich verschlungen hätte, es wäre mir vorgekommen wie die gerechte Strafe für alles. Doch nichts dergleichen geschah. Der Zug sauste durch die Nacht, unbeeindruckt von allem, was in seinem Inneren vor sich gehen mochte oder auch nicht, ratterte über Brücken, an friedlich schlafenden Siedlungen vorbei, und immer wieder wanderten ferne Lichter vorüber. Mit der Zeit kam ich wieder zu mir. Ich stand auf und trat auf den Gang hinaus. Unter meinen Schuhen knirschten Glasscherben. Wohin mochte Armand gegangen sein? Ich wanderte langsam den Gang entlang, der ebenfalls abgedunkelt war. Die meisten Abteile standen leer. Bei den anderen waren auch die Vorhänge vorgezogen und die Lampen ausgeschaltet; durch die Vorhangspalten konnte man die dunklen Umrisse schlafender Leute erahnen. Ich erreichte die Schiebetür am Ende des Ganges und gelangte in den Vorraum. Es war kühl hier, und das Rattern der Räder dröhnte einem in den Ohren. Der nächste Wagen war ein Schlafwagen. Ich blieb stehen. Die Toilette war besetzt. Ich sah mich um, und als ich weit und breit niemanden entdeckte, legte ich vorsichtig mein Ohr an die Tür und lauschte. Jemand schluchzte. Armand. Es klang grauenhaft. Es war ein Schluchzen voll unerträglicher Verzweiflung; so als wollte er schreien, während er wusste, dass keiner seiner Schreie jemals laut genug sein würde. Es schien aus einem bodenlosen Abgrund zu kommen, ein Schluchzen, wie ich es noch nie so furchtbar gehört hatte. Mir war unbeschreiblich zu Mute, als ich langsam ins Abteil zurückging. Ich schaltete das Deckenlicht ein, wartete blinzelnd, bis sich meine Augen wieder an die Helligkeit gewöhnt hatten, und machte mich dann daran, die Spiegelscherben einzusammeln. Die Hand notdürftig durch ein Taschentuch geschützt, brach ich auch die Scherben heraus, die noch in der Halterung steckten, und warf sie alle in den kleinen Abfallbehälter unter dem Fenster. Schließlich ließ ich mich auf meinen Platz fallen und starrte einfach nur vor mich hin. Ich dachte an das, was er über das Institut erzählt hatte, wo man ihn jahrelang untersucht hatte wie ein seltenes Tier. Er musste in einer seelischen Wüste gelebt haben. Bestaunt, aber nicht geliebt. Ich stand auf, um das Licht wieder auszuschalten. Ich war völlig durcheinander. Was konnte ich schon tun? In den Momenten, in denen ich ihn nicht gefürchtet hatte, hatte ich ihn eigentlich ja auch nur bewundert. Ich hatte einen Jungen gesehen, der viel aufregender war als alle Jungs, die ich sonst kannte. Der übersinnliche Kräfte besaß. Der es wagte, eine Flucht quer über den Kontinent anzutreten und dabei einer ganzen Armee von Verfolgern die Stirn zu bieten. Ich hatte mir auch nicht überlegt, wie viel Angst und Verzweiflung nötig waren, um einen solchen Schritt zu tun. Eigentlich kannte ich ihn überhaupt nicht. Was konnte ich schon tun? Trübsinnig starrte ich hinaus

Weitere Kostenlose Bücher