Die seltene Gabe
uns zurückblieben, fiel die Anspannung von uns ab. Mir war, als hätte ich die ganze letzte Stunde den Atem angehalten. Der Schaffner kam, stempelte unsere Fahrkarten, wünschte uns eine gute Reise und eine gute Nacht und ging weiter. Armand schloss die Abteiltür hinter ihm, zog die Vorhänge zu und schaltete die Deckenbeleuchtung aus, sodass das Abteil nur noch von der glimmenden Nachtlampe erhellt wurde. »Das wäre geschafft«, meinte Armand höchst zufrieden. »Sollen sie Stuttgart nach uns absuchen. Wird sicher spaßig. Ich könnte mir vorstellen, dass Pierre irgendwann platzt vor Wut.« Er öffnete den Reißverschluss seiner Reisetasche. »Ich glaube, jetzt ist ein kleines Picknick genau die richtige Belohnung.« Ich entledigte mich endlich der lästigen Perücke mit dem festen Vorsatz, mir nie, nie, nie im Leben so ein Ding zu kaufen. Es war mir ein Rätsel, wie jemand ganze Abende mit etwas auf dem Kopf verbringen konnte, das sich anfühlte wie eine Plastiktüte, die entschlossen war, einen zu skalpieren. Dann machte auch ich mich über meinen Proviant her. Immerhin hatte ich seit den zwei kleinen Stücken Marmorkuchen, die mir Jessicas Mutter aufgenötigt hatte, nichts mehr gegessen. Meine Güte, das alles schien Ewigkeiten her zu sein! Mein ganzes Leben begann, mir vorzukommen wie etwas, das ich bloß mal im Film gesehen hatte. Armand knipste das Leselicht an und tastete in der Ablage über seinem Kopf nach dem Faltblatt mit dem Fahrplan unseres Zuges. Das lag auf einem Stapel gelesener Zeitungen, der ihm daraufhin in den Schoß fiel, allem obenauf die Titelseite mit den in diesen Tagen unvermeidlichen Schlagzeilen über Jean-Marie Levroux, den französischen Spion, und dem Foto des gesuchten jugendlichen Gewaltverbrechers Armand Duprée darunter. »Der verfolgt mich!«, murmelte er, knüllte die Zeitungen wieder zusammen und stopfte sie zurück in die Ablage. Dann widmete er sich dem Fahrplan. »Der nächste Halt ist Schorndorf, in ein paar Minuten. Das wussten wir schon. Bis Crailsheim hält der Zug ungefähr alle Viertelstunde. Dann noch Ansbach, und danach kommt erst um halb zwei Nürnberg. Gut«, sagte er, legte das Faltblatt weg und knipste die Leselampe wieder aus. »Du kommst ziemlich schnell mit Fahrplänen klar, oder?«, fragte ich. »Ich meine, dieses Manöver vorhin mit Nahverkehrszügen, Gleisen und Abfahrtszeiten – auf so etwas wäre ich im Leben nicht gekommen.« »Na ja, ich weiß nicht«, sagte Armand und öffnete eine Cola-Dose. »Dass der Bahnhof stillgelegt war, das hätte schlimm ausgehen können. Aber was soll’s... Man macht es eben, so gut man kann, wenn alle Welt hinter einem her ist.« »Hmm«, machte ich nachdenklich. Eine Weile schwiegen wir, mit Essen und Trinken beschäftigt. Der Zug hielt, aber es schienen nur Leute auszusteigen. Gleich darauf glitten wir wieder einschläfernd gleichmäßig durch eine nächtliche Landschaft, über der zerfetzte Wolken und ein mild herableuchtender Mond hingen. Das, was wir als Proviant dabeihatten, war nicht gerade ein Musterbeispiel für ausgewogene Ernährung. Armand hatte wahllos eingepackt, was zur Hand gewesen war, Getränkedosen, Schokolade, Kekse, eine halbe Packung Knäckebrot, diverse Käse, die restlichen Ringe von Vaters getrockneter Blutwurst, dies und das. Als ich die Wurstringe in der Umhängetasche gesehen hatte, hatte ich angestrengt darüber nachgedacht, ob ich sie rechtzeitig würde von meinem gesparten Taschengeld ersetzen können und ob es etwas ausmachte, dass sie dann noch zu frisch sein würden für Vaters Geschmack. Jetzt kamen mir diese Gedanken höchst eigenartig vor. Schließlich war es doch nicht meine Schuld, dass ich überfallen und entführt worden war! »Sag mal . . .«, begann ich irgendwann ein paar Bahnhöfe später, nach Mitternacht, als ich mir nicht sicher war, ob Armand nur gedankenverloren aus dem Fenster sah oder womöglich schlief. »Hmm?«, machte er. Er klang hellwach.
»Angenommen, deine Flucht gelingt . . .« »Sie gelingt«, versicherte Armand sofort. ». . . dann wirst du irgendwo untertauchen, oder? Ein neues Leben anfangen.« »Genau. Neuer Name, neue Identität.« Ich kaute nachdenklich an meinem letzten Wurstzipfel. So auf der Flucht schmeckten sie gar nicht übel, Vaters Lieblingswürste. »Und was ist mit deinen Eltern? Die werden sich doch Sorgen machen.« Armand schwieg eine Weile. »Vielleicht schreibe ich ihnen eine Karte, wenn alles geregelt ist. Aber mehr wird nicht drin sein.
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