Die seltene Gabe
Ausdruck, eine Mischung aus Angst und irrer Wut – und noch etwas, das weit entsetzlicher war, für das ich aber keinen Begriff hatte. »Dann halt ihn eben an!«, schrie ich zurück. Er gab einen jaulenden Laut von sich. »Das kann ich nicht! Ich kann doch keinen Zug anhalten!« Jetzt sah man die Scheinwerfer der Lokomotive. In ihrem Licht glommen die Schienen auf, schnurgerade, wie hauchdünne silberne Spinnweben. Ich musste auflachen. »Du kannst also doch nicht alles!« Keine Ahnung, warum ich das sagte. In dem Augenblick fand ich es kolossal erleichternd, festzustellen, dass seine unheimliche Macht Grenzen hatte. Armand warf mir einen eigenartigen Blick zu, genau in dem Moment, in dem der Zug groß und dröhnend und tonnenschwer aus dem Tunnel geschossen kam. In meiner Erinnerung sehe ich alles wie in Zeitlupe vor mir. Ich weiß noch, wie der Luftstoß, den der Zug vor sich herschob, Armands Haar verwehte, sehe seine Hände sich wie bei einem epileptischen Anfall verkrampfen und sein Gesicht sich zu einer Fratze verzerren, dann höre ich ein markerschütterndes metallisches Kreischen, Stahl auf Stahl, spüre den Boden zittern unter mir und sehe . . . wie der Zug zum Stillstand kommt. Genau am alten Bahnsteig, direkt vor uns. Ein letztes eisernes Ächzen, dann war es auf einmal ohrenbetäubend still. Armands Gesicht entspannte sich wieder, von einem dünnen, schimmernden Schweißfilm bedeckt. Er lächelte. »Die Bremsen«, keuchte er triumphierend. »Mir ist gerade noch eingefallen, dass ich ja nur die Bremsen zu betätigen brauche, um den Zug anzuhalten.« Ich starrte die still dastehenden Wagen an, unter denen es eigenartig knackte, sah Armand an. »Die Bremsen. Na klar.« Sollte ich lachen oder heulen? »Und jetzt?« »Wir steigen ein. Komm.« Er machte eine schwache Handbewegung in Richtung auf das Zugende. »So weit hinten wie möglich.« Wir eilten auf die hinterste Einstiegstüre zu. Ich erreichte sie, griff nach dem Türöffner, riss daran – und nichts rührte sich. Die Tür war verriegelt. »Armand«, sagte ich und trat zurück. »Dein Fachgebiet.« Armand packte den metallenen Hebel, versuchte ihn zu drehen. Nichts. »Merde«, murmelte er und bekam denselben glasigen Blick wie bei den Spielautomaten. »Elektrisch . . .? Arbeitet die Verriegelung elektrisch? Das ist schwierig. Das ist... vachement con!« Er riss wütend an dem Griff, doch die Tür blieb zu. In dem Augenblick knallte die vorderste Türe auf, und der Schaffner stieg aus, anscheinend, um die Fahrgestelle zu inspizieren. Doch ehe er dazu kam, entdeckte er uns und fing an, aufgeregt mit dem Arm zu wedeln. »He! Sie dahinten!«, rief er. »Steigen Sie wieder ein. Das ist noch nicht der Hauptbahnhof!«
Wir sahen uns verblüfft an. Armands Augen leuchteten auf. Er packte den Türöffner, riss daran und schrie zurück: »Geht nicht auf!« Der Schaffner, vernehmlich vor sich hin schimpfend, zog einen mächtigen Schlüsselbund aus der Tasche und fuhrwerkte damit an irgendeinem Schaltkasten bei sich neben den ausgeklappten Trittstufen herum. Es klackte und Armand konnte unsere Türe mühelos aufziehen. Wir stiegen ein, zogen sie hinter uns wieder zu und blieben einfach in dem Vorraum stehen. Gleich darauf fuhr der Zug wieder an. »Ich habe einen Zug angehalten«, sagte Armand und schüttelte den Kopf, offenbar schwer von sich selber beeindruckt. »Wenn das Monsieur Fourier wüsste . . .« Ich habe nie erfahren, wer dieser Monsieur Fourier war. Es interessierte mich in dem Moment auch nicht. Ich sah nur aus dem Fenster, hinaus in die lichterfüllte Nacht. »Bestimmt wird gleich der Schaffner kommen, um uns zu kontrollieren.« Armand schüttelte den Kopf. »Wird er nicht.« Er setzte die geraubte Brille auf und zog die Jacke aus, wendete das karierte Innenfutter nach außen und legte sie locker über seine Tasche. Dann grinste er dünn. »Weiter vorn ist eine Durchgangstür blockiert.« Der Schaffner kam tatsächlich nicht. Auch alles andere funktionierte so, wie Armand es sich ausgedacht hatte. Nach ein paar Minuten erreichten wir den Hauptbahnhof. Der Zug bremste ab, kam zum Stillstand. Auf der anderen Seite des Bahnsteigs stand tatsächlich bereits ein anderer Zug abfahrbereit. Wir stiegen aus, gingen hinüber, niemand schrie, niemand hielt uns an. Unbehelligt stiegen wir ein, fanden ein leeres Abteil und setzten uns. Zehn Minuten später rollte er an und wir waren unterwegs.
Kapitel 10 |
Während die Lichter von Stuttgart allmählich hinter
Weitere Kostenlose Bücher