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Die seltene Gabe

Die seltene Gabe

Titel: Die seltene Gabe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arena
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in die nachtschwarze Landschaft, durch die der Zug fuhr. Bis mir siedend heiß etwas einfiel, das Armand heute Abend gesagt hatte.
    Ich werde nicht wieder zurückgehen, nie wieder. Eher sterbe ich.
    Du meine Güte. Eine wilde Vision von Blut und aufgeschnittenen Pulsadern durchzuckte mein Hirn. Er würde sich doch nichts antun! Ich sprang auf, stürzte aus dem Abteil und hetzte den Gang entlang. Schiebetür, Kälte, ohrenbetäubendes Fahrgeräusch. Und an der Tür stand immer noch »Besetzt«. Atemlos lauschte ich. Er lebte. Ich konnte ihn sprechen hören, schwer atmend, mit erstickender Stimme in einem fort denselben Satz wiederholend wie eine Beschwörung. Ich presste das Ohr fester auf die Tür und versuchte, zu verstehen, was er sagte. Es klang Französisch, aber ich hörte nur Wortfetzen heraus. Je suis . . . Ich bin . . . Was war er? Und plötzlich verstand ich. Französisch war eher eines meiner schwächeren Fächer, aber es hilft enorm, wenn jemand wieder und wieder dasselbe sagt, wie ein Gebet.
    Je suis un être humain. Je suis un être humain.
    Immer wieder diesen Satz, der auf Deutsch so viel heißt wie »Ich bin ein menschliches Wesen«. Das sagte er sich wieder und wieder mit einer Inbrunst, als hinge sein Leben davon ab. Und vielleicht tat es das ja auch. Hilflos schloss ich die Augen und ließ meinen Kopf vornüber auf die Tür sinken, presste meine Stirn gegen das kühle Plastikmaterial.
    Ich bin ein menschliches Wesen.
    Oh Gott. Ich hatte ihm wehtun wollen, und ich hatte ihn an seiner wundesten Stelle getroffen. Ich blieb lange so stehen, nicht im Stande, mich zu rühren. Dann riss ich mich los und suchte den Weg zurück. Ich zitterte, als ich wieder im Abteil war. Ich setzte mich hin und hätte am liebsten geheult, aber es wollten keine Tränen kommen.

Kapitel 11 |
    Die Zeit verging und ich saß einfach nur da und sah mit brennenden Augen hinaus in die Nacht. Irgendwann kam wieder eine Stadt, hielt der Zug an verlassenen Bahnsteigen, die im fahlen Licht gelber Lampen kalt und unheimlich wirkten. Nürnberg. Niemand war zu sehen, und als der kurze, gedämpfte Pfiff des Schaffners ertönte, schlug nur eine einzige Tür zu, unendlich weit entfernt. Und weiter ging die Fahrt. Schließlich tauchte Armand wieder auf. Blass stand er plötzlich in der Tür und schien erstaunt zu sein mich noch vorzufinden. »Du bist noch da?« Ich sah ihn an. »Wohin hätte ich denn gehen sollen?« Er schien zu überlegen, was er darauf sagen sollte. Schließlich setzte er sich, aber nicht mehr auf den Platz mir gegenüber am Fenster, sondern auf den Platz direkt neben der Tür – dort, wo er am weitesten von mir entfernt war. Es tat weh, ihn da zu sehen. Ich zögerte. »Armand?« »Ja.« »Es . . . es tut mir Leid, was ich vorhin gesagt habe.« »Schon gut.« »Nein, es ist nicht gut. Ich hätte das nicht sagen dürfen. Ich...ich bin so durcheinander von allem, wa s heute passiert ist...das ganze Hin und Her . . .« Ic h hielt inne. Das klang alles so dünn. Wenn man wirklich etwas zu sagen hat, muss man immer feststellen , dass Worte nicht ausreichen . »Es ist vorbei«, sagte Armand leise. »Es ist passiert , aber jetzt ist es vorbei. Lass uns nicht mehr darüber reden. « Wir schwiegen. Dunkelheit und das einschläfernde , ewig gleiche Fahrgeräusch umhüllten uns. Es schien , als hätten wir den ganzen Zug für uns, als führen wi r seit Ewigkeiten und würden für alle Zeiten weiterfahren . »Armand? « »Hmm? « »Erzähl mir etwas über dich«, bat ich . Er setzte sich erstaunt auf. »Wieso? « »Einfach so«, sagte ich. »Es interessiert mich. Ich würde gern mehr über dich wissen. « Ich sah ihn den Kopf schütteln, so als könne er nich t ganz glauben, was er da gerade gehört hatte. »Wi e meinst du das? Über mich als Person oder über mein e telekinetischen Kräfte? « »Deine telekinetischen Kräfte kenne ich inzwischen , danke«, entgegnete ich. »Nein, erzähl mir etwas übe r dich, deine Eltern, deine Kindheit, was dich interessiert, solche Sachen. « »Meine Eltern?« Er sprach das Wort aus, als höre er e s zum ersten Mal. Er zögerte. »Was willst du wissen? «
    Ich zuckte mit den Schultern. »Was weiß ich – ich will dich doch nicht verhören oder so was. Erzähl mir einfach was. Ob du Geschwister hast, zum Beispiel. Was du für Musik magst.« »Was ich für Musik mag?« Er sah mich mit eigenartig geweiteten Augen an, wirkte regelrecht erschüttert. »Das hat mich noch nie jemand gefragt, weißt du

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