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Die Seltsamen (German Edition)

Die Seltsamen (German Edition)

Titel: Die Seltsamen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Bachmann
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noch einen Blick zurück in das Haus geworfen. Und dort, weit hinten auf dem Treppenabsatz, stand der Herr Justizminister, ein weißes Flackern in der Finsternis. Er beobachtete Mr.   Jelliby. Seine blassen Hände hatte er auf den Silberknöpfen seines Wamses gefaltet. Sein Gesicht war eine ausdruckslose Maske. Die Augen jedoch – die Augen hatte er noch immer weit aufgerissen. Und in dem Moment wurde Mr.   Jelliby klar, dass ein Hochelf mit großen Augen kein erstaunter Hochelf war. Sondern ein sehr, sehr zorniger Hochelf.

FÜNFTES KAPITEL

    Eine Einladung an eine Fee
    Bartholomew riss die Augen auf. Es stank ganz fürchterlich. Er lag in seinem Bett, und durch das Fenster strömte Sonnenlicht herein. Mutter stand über ihm. Hettie klammerte sich an ihren Rock und starrte ihn an, als wäre er ein wildes Tier.
    »Barthy?« Die Stimme seiner Mutter zitterte. »Na los, sag schon!«
    Er versuchte, sich aufzusetzen, aber seine Arme taten ihm ganz schrecklich weh, und er sank mit einem Keuchen auf das Kissen zurück. »Was denn, Mutter?«, fragte er leise.
    »Spiel jetzt nicht den Dummen, Bartholomew Kettle. Wer hat dir das angetan? Hast du überhaupt gesehen, wer dir das angetan hat?«
    »Was denn?« Seine Haut brannte. Ach, warum hatte er nur solche Schmerzen? Er hatte das Gefühl, an seinen Knochen würden Maden nagen.
    Seine Mutter wandte sich ab und schlug die Hände vors Gesicht. »Beim Licht der leuchtenden Linse«, stöhnte sie, »er hat das Gedächtnis verloren.« Dann wirbelte sie herum, starrte Bartholomew an und rief: »Sie haben dich in Fetzen gerissen! Sie haben meinen armen kleinen Liebling in Fetzen gerissen!« Und damit hob sie einen Zipfel seiner alten Wolldecke hoch.
    Hettie verbarg ihr Gesicht in den Händen.
    Bartholomew schluckte. Blutrote Linien zogen sich über seine Arme und seine Brust, schmale Kratzer, die auf seiner weißen Haut Kringel und Kreise bildeten. Sehr ordentliche Kringel und Kreise. Die Kratzer bildeten ein Muster wie die Schriftzeichen in dem Zimmer mit den mechanischen Vögeln. Auf eine ungestüme, furchterregende Art und Weise sah es beinahe schön aus.
    »Oh…«, hauchte er. »Oh, nein. Nein, nein, ich…«
    »Waren das Feen oder Menschen?« Der Stimme seiner Mutter war die Angst anzuhören. Nackte, panische Angst. »Hat einer unserer Nachbarn herausgefunden, dass du ein Mischling bist? John Longstockings oder diese Weevil?«
    Bartholomew blieb ihr die Antwort schuldig. Mutter hatte ihn offenbar auf der Straße gefunden. Er konnte sich noch erinnern, wie er, halb betäubt vor Schmerzen, aus dem Garten der Buddelbinsters gekrochen war. Das dreckige Straßenpflaster an seiner Wange. Wobei er sich gefragt hatte, ob ihn jetzt gleich ein Karren überfahren wurde. Von der pflaumenfarbenen Dame konnte er seiner Mutter nichts erzählen. Auch nicht von dem Mischlingsjungen, den Pilzen oder dem Zimmer mit den Vögeln. Das würde alles nur schlimmer machen.
    »Ich weiß es nicht«, log er. Er rieb mit der Hand über die roten Linien, als würde er sie so wegkriegen, aber das tat nur noch mehr weh, und ihm wurde schwarz vor Augen. Die Linien blieben, wie sie waren.
    Er schaute hoch. Hettie hatte die Augen wieder einen Spaltweit geöffnet. Das Gesicht seiner Mutter war angespannt, und sie presste die Lippen aufeinander, damit sie nicht zitterten. Die Angst in ihren Augen ließ ahnen, dass sie gleich den nächsten hysterischen Anfall bekommen würde.
    »Ich muss los«, sagte er. »Mutter, ich kann jemanden fragen. Dann wird alles wieder gut.« Er stand auf und hätte fast das Gleichgewicht verloren, als ihn seine Schmerzen mit voller Wucht trafen. Er riss seine schmutzigen Kleider vom Bettpfosten und humpelte, so schnell es ihm möglich war, zur Tür.
    Seine Mutter versuchte, ihn aufzuhalten, aber er drängte sich an ihr vorbei, lief aus der Wohnung hinaus und in den Hausflur.
    »Bartholomew, bitte!«, wimmerte Mutter von der Tür her. »Komm wieder rein. Was ist, wenn dich jemand sieht?«
    Bartholomew rannte los. Er würde eine Fee heraufbeschwören. Ihm blieb keine andere Wahl. Plötzlich war ihm das glasklar geworden. Ein Hausgeist konnte ihm sagen, was es mit dem Pilzkreis auf sich hatte, wohin er führte und warum die kleinen Geschöpfe mit den Flügeln etwas auf ihn draufgeschrieben hatten. Ein Hausgeist würde sie beschützen und ihnen Glück bringen. Und vielleicht hätte Bartholomew dann auch einen Freund. Einen echten Freund, der ihm nicht nur durchs Fenster zuwinkte.
    Dann wird

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