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Die Seltsamen (German Edition)

Die Seltsamen (German Edition)

Titel: Die Seltsamen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Bachmann
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Verstecken zu spielen, und dann würde er ihn an die Arbeit schicken. Er würde Kleider ausbessern, Besorgungen machen und den Kanonenofen unter dem Waschkessel anfeuern. Mutter würde nicht mehr so hart arbeiten müssen, und vielleicht konnten sie irgendwann aus dem Feenslum wegziehen und in einem so schönen Zimmer leben wie dem mit den grünen Vorhängen und dem offenen Kamin.
    Dann würde sie einsehen, dass sie sich geirrt hatte.
    Bartholomew klappte ein staubiges Buch auf und machte sich daran, eine Fee einzuladen.
    Domestizirte Feen, sogenannte ›Hausgeister‹, sind magische Wesen, die dem Alten Land entstammen, von jenseits des Feenportals. Sie sind körperlos und können jede Gestalt und Größe annehmen. Das äußere Erscheinungsbild Eures Feenwesens hängt gäntzlich von dessen Charakter und Gemüthsstimmung ab.
    Um eine Fee einzuladen, müßt Ihr einen ruhigen, abgelegenen Ort aufsuchen. Die dunklen und moosbedeckten Wald-Auen in der Nähe flüsternder Bäche sind dafür besonders geeignet. (Keine Angst, Eure Fee wird Euch nach Hause folgen.) Sammelt verschiedene Blätter, Strohhalme, Zweige und andere Pflanzenfasern. Daraus flechtet einen Hügel, der innen hohl ist und am Fuße eine kleine Oeffnung hat (die Thür, durch welche die Fee eintreten kann). In die Wände dieser Behausung steckt Früchte und Kräuter (wie Holunder-Beeren und Anis). Dann legt hinein:
    Einen Löffel (NICHT aus Eisen)
    Eine hübsch bunte Schleiffe
    Einen Fingerhuth
    Eine Glasscherbe
    Etwas zu essen aus dem Haus (wie Brot oder Käse)
    Zu guter Letzt streut eine Prise Salz darüber. Feen verabscheuen Salz mehr als alles andere, aber indem Ihr es über Eure Opfergaben streut, lehrt Ihr sie Respect. Verwendet jedoch nicht zu viel davon, sonst fürchtet Euch die Fee wie den Teuffel selbst und ist dann zu nichts mehr zu gebrauchen.
    Hinweis: Je besser die Beschaffenheyt der einzelnen Opfergaben, umso größer ist die Wahrscheinlichkeit, eine Fee herbeizulocken. Außerdem besteht ein direkter Zusammenhang zwischen der Beschaffenheyt der Gegenstände und jener der Fee, die sich von ihnen angezogen fühlt. Ein Silberlöffel und eine Seidenschleife sind verläßliche Mittel, wollt Ihr eine gute, liebenswerte Fee Euer Eigen nennen.
    Und darunter, in kleinen, verblassten Buchstaben:
    Exzerpt aus dem Originaltext der »Feenenzyklopädie« von John Spense, 1779. Die Thistleby & Sons Ltd. kann nicht dafür garantieren, dass die oben beschriebenen Handlungen wirksam sind, und sie übernimmt auch keinerlei Verantwortung für irgendwelche unerwünschten Folgen, zu denen sie vielleicht führen.
    Bartholomew hatte das alles schon so oft gelesen, dass er es fast auswendig konnte, aber er las es trotzdem noch ein letztes Mal. Dann nahm er seine Zutaten und machte sich an die Arbeit. Die einzelnen Gegenstände auf der Liste hatte er im Laufe von Monaten zusammengetragen und in seiner Schatzkiste versteckt. Die Blätter stammten von der Efeuranke, die sich hinten ans Haus klammerte. Das Stroh hatte er aus seinem Kopfkissen. Löffel, Brotkrumen, drei getrocknete Kirschen und den letzten Rest Salz hatte er aus Mutters Küche stibitzt.
    Zwanzig Minuten später klopfte sich Bartholomew den Staub von den Händen und setzte sich auf, um sein Werk zu begutachten. Der Feenhügel machte nicht viel her. Eigentlich sah er sogar ziemlich jämmerlich aus – als hätte jemand einen Haufen Unrat auf den Boden gekippt. Bartholomew fragte sich, ob sein Vorhaben nicht einfach nur töricht und hoffnungslos war. Seine Haut tat ihm furchtbar weh. Er wusste nicht, wie lange eine Fee brauchte, um eine solche Behausung zu finden, und er wusste auch nicht, ob er auf sie warten oder ob er fortgehen und später zurückkommen sollte. Und was war, wenn die Fee ihm nicht helfen wollte? Wenn sie nicht mit ihm befreundet sein wollte und dafür sorgte, dass die Milch sauer wurde, wie seine Mutter befürchtete? Je mehr Bartholomew darüber nachdachte, umso elender fühlte er sich, bis er schließlich den Kopf schüttelte und sich vor dem runden Fenster auf den Boden hockte. Er schlang die Arme um die Knie und schaute hinaus.
    Ein räudiger schwarzer Hund lief, auf der Suche nach einem Kohlblatt oder einem Knochen, den Rinnstein entlang. Am anderen Ende der Gasse standen zwei Männer im blaugrauen Schatten einer Dachtraufe und unterhielten sich leise. Honigfarbenes Licht wehte aus einem schmalen Streifen Himmel herab. Gegenüber duckte sich das Haus der Buddelbinsters. Die mürrisch

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