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Die Seltsamen (German Edition)

Die Seltsamen (German Edition)

Titel: Die Seltsamen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Bachmann
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Fall zusammen gesehen werden! Nicht in der Öffentlichkeit!«
    Es war die Dame. Die Dame, die Mr.   Jelliby jenen hellerleuchteten Korridor in Nonsuch House hatte entlangeilen sehen. Mr.   Lickerish zog sie herein, schloss die Tür hinter ihr und schob mit einem scharfen Klonk den Riegel vor.
    Die Dame blieb in der Mitte des Zimmers stehen. »Wir sind nicht in der Öffentlichkeit!«, sagte sie und wandte sich dem Hochelfen zu.
    Mr.   Jelliby riss die Augen auf. Ihre Lippen – leuchtend rote Lippen in einem gepuderten Gesicht – hatten sich nicht bewegt. Die Stimme war aus ihrer Richtung gekommen, aber es war nicht die Stimme einer Dame. Es war nicht einmal die Stimme eines Menschen. Es war eine dünne, kalte, träge Stimme, die Mr.   Jelliby daran gemahnte, wie zu Rauhreif erstarrte Blätter über Stein kratzten. Und es war unverkennbar die Stimme einer Fee.
    Mr.   Lickerish stampfte mit dem Fuß auf. »Melusine, wir…«
    »Nenn mich nicht mit diesem Namen!«, fauchte sie. Und wieder blieben die Lippen reglos.
    Mr.   Lickerishs Augen weiteten sich und wurden zu zwei schwarzen Monden. Mit ungestümer Grausamkeit hob er seinen Gehstock und schlug der Dame damit auf den Hinterkopf. Ein Aufschrei. Die Dame beugte sich vornüber, aber ihr Gesicht blieb ausdruckslos.
    »Du erteilst mir keine Befehle«, sagte Mr.   Lickerish und senkte den Gehstock. »Melusine.« Er spuckte den Namen geradezu aus.
    »Vergib mir, Sathir. « Die Stimme klang unterwürfig. »Das ist ihr Name. Nicht der meine. Er weckt ihre Erinnerungen an Dinge, an die sie nicht denken sollte.«
    Mr.   Lickerish schritt hinter dem Rücken der Dame unruhig auf und ab. Sie stand so still da wie eine Wachsfigur, eine schattenhafte Statue in der Mitte des Zimmers. Erschrocken bemerkte Mr.   Jelliby, dass ihr Blick direkt auf sein Versteck gerichtet war. Sie trug einen kleinen Zylinder, der ihre Augen verbarg, aber beobachtete sie ihn? Jetzt, in diesem Moment? Er starrte sie an und fragte sich, wer sie war. Ihre Kleider waren einmal prächtig gewesen, meterweise Samt, Perlmuttknöpfe und verschlungene Stickereien. Aber das war eine Weile her. Die pflaumenfarbenen Röcke waren dreckig, und bei jeder Bewegung kamen Schichten über Schichten Seide und Unterröcke zum Vorschein, die vor Schmutz starrten. Einer ihrer Handschuhe war zerrissen und voller Flecken, die wie getrocknetes Blut aussahen. Er versuchte, ihre Gesichtszüge zu erkennen, aber mehr als ein anmutiges Kinn und den roten, roten Mund konnte er nicht sehen.
    »Warum bist du hier, Jack Box?« Mr.   Lickerish blieb einen Moment lang stehen und starrte wütend ihren Rücken an. »Sprich schnell und bete zu den in alle Winde zerstreuten Sternen, dass du einen guten Grund hast, um mich zu belästigen. In weniger als fünf Minuten tritt der Staatsrat zusammen.« Er zog eine Taschenuhr hervor und betrachtete sie zornig.
    »Minuten«, sagte die Stimme, und Verachtung und Fassungslosigkeit vereinigten sich zu einer spitzen Erwiderung. »Minuten sind etwas für Menschen. «
    Mr.   Lickerish bekam wieder große, runde Augen. Die Dame wich einige zögerliche Schritte zurück. »Wie dem auch sei!«, fügte die Stimme rasch hinzu. »Du musst natürlich tun, was du für richtig hältst. Ich habe noch eins gefunden.«
    Einen Augenblick lang herrschte Schweigen.
    »Als ich Kind Nummer neun geholt habe, hat es uns aus einem Fenster beobachtet. Es wohnt direkt gegenüber von Nummer neun, in derselben Gasse.«
    Wieder Schweigen. Mr.   Lickerish sagte nichts.
    »Der Feenbezirk ist ein Segen für uns, Sathir. Viele Hunderte von Mischlingen warten dort nur darauf, von uns aufgelesen zu werden. Und niemand schert sich auch nur einen feuchten Kehricht, ob sie leben oder sterben.« Ein sprödes, widerwärtiges Lachen hallte durch das Zimmer. »Den letzten musste ich nicht mal stehlen. Ich hab ihn der Mutter unter der Nase weggekauft. Für einen Beutel Hagebutten.«
    Mr.   Jelliby, der allmählich einen Krampf bekam und versuchte, sich irgendwie Erleichterung zu verschaffen, ohne ein Geräusch zu machen, spitzte die Ohren. Mischlinge. Hatte er da nicht erst vor kurzem… Oh. Ach du liebe Zeit. Also steckte John Lickerish dahinter. Er und andere. Der Justizminister von England war in den Tod von neun Mischlingen verwickelt.
    Mr.   Jelliby konnte nicht fassen, was für ein Pech er hatte. Ausgerechnet er musste das herausfinden. Wäre ich doch nur diesem verfluchten Zimmer ferngeblieben! Er hätte sich für eine

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