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Die Seltsamen (German Edition)

Die Seltsamen (German Edition)

Titel: Die Seltsamen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Bachmann
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schienen der Vergangenheit anzugehören.
    Die roten Symbole wollten nicht heilen. Mutter hatte sie in heißem Wasser gebadet, mit übel riechenden Blättern eingerieben, Breiumschläge aufgelegt und mit den saubersten Tüchern umwickelt, die sie finden konnte, doch obwohl inzwischen mehrere Tage vergangen waren, sahen sie immer noch gleich aus. Die Haut darum herum war nicht mehr so stark geschwollen, und seltsamerweise spürte er sie nur, wenn ein durchdringendes Geräusch ertönte, das Knarren eines Dielenbretts oder der Schrei eines Vogels. Aber sie verblassten nicht, und ebenso wenig verschorften oder vernarbten sie. Sie waren einfach da, ein blutrotes Blumenmuster, das auf seiner Haut Wirbel bildete.
    »Mutter!« Schon wieder Hettie.
    Die Nadel pikste Mutter direkt unterhalb des Nagels in den Finger, und sie hob mit einem leisen Keuchen den Kopf. »Hettie, was hast du nur für komische Ideen!« Sie saugte an ihrem Finger. »Warum sollte ich Münzen hinter den Augen haben?«
    Hettie beugte den Kopf tief über ihren Becher. »Das hat mir jemand erzählt«, sagte sie mit hallender Stimme. »Er hat mir gesagt, ich soll sie rauszupfen und mir davon Sahnebonbons kaufen.«
    Bartholomew setzte sich auf. Gleich würde Mutter Hettie anschreien, sie würde heulen und weinen, sie anflehen, dass das bitte nicht wahr sei, dass Hettie nicht mit Fremden geredet hatte. Aber Mutter hatte den letzten Satz nicht gehört. Stattdessen trat ein Funkeln in ihre Augen, was nur sehr selten vorkam, und sie sagte: »Ach, und was für ein Jemand war das? Ein kleiner Prinz vielleicht, der auf einem wilden Eber ritt?«
    Hettie sah sie vorwurfsvoll an. »Nein. Ein Lumpenkerl.«
    »Ein Lumpenkerl?« Mutter schlug mit dem Finger gegen die Tischkante, wie um sich zu vergewissern, dass er noch ganz war, und beugte sich wieder über ihre Näharbeit. »Das ist aber nicht eben hübsch.«
    »Natürlich ist es nicht hübsch, Mama, er ist ein Lumpenkerl.« An diesem Morgen war Hettie äußerst übelgelaunt. Weshalb ist sie denn so sauer?, fragte sich Bartholomew. Sie war schließlich nicht um Haaresbreite aufgeknüpft worden. Ihr Freund war nicht gestohlen worden, auf ihrer Haut waren keine magischen Zeichen erschienen, sie hatte sich nicht anhören müssen, wie eine tote Fee etwas von Hufen und Stimmen kreischte.
    Mutter sah Hettie traurig an. »Ach, Schatz.« Sie ließ ihre Näharbeit fallen und nahm Hettie auf den Schoß. »Mein allerliebster Schatz. Ich wünschte mir, du könntest echte Freunde haben. Ich wünschte mir, du könntest auf die Straße gehen und wie die anderen Kinder Waldgeistern nachjagen und auf dem Markt Besorgungen machen, aber… nun ja, das geht einfach nicht. Die Leute da draußen verstehen nicht… sie würden…« Mutter verstummte.
    Sie würden dich umbringen, dachte Bartholomew bei sich. Aber das würde Mutter Hettie nicht sagen. Sie würde ihr nicht erklären, dass sie niemals auf der Straße spielen, Waldgeister jagen oder auf den Markt gehen würde. Nicht in Bath. Denn dann würde Hettie schneller am Galgen landen, als irgendjemand ›Gentleman Jack‹ flüstern konnte.
    »Ich fürchte, du wirst dich noch eine Weile mit Freunden zufriedengeben müssen, die du dir ausdenkst«, war alles, was Mutter sagte.
    »Mama, der Lumpenkerl ist aber nicht mein Freund«, stellte Hettie in ernstem Tonfall richtig.
    Mutter hob Hettie von ihrem Schoß und setzte sie ohne viel Aufhebens auf den Boden.
    »Nun, warum hast du ihn dir dann ausgedacht?«, fragte sie kurz und bündig. Und so ungestüm, wie sie ihre Nadel in den Strumpf rammte, wollte sie offenbar keine Antwort hören.
    Hettie konnte das allerdings nicht sehen. »Hab ich doch gar nicht!«, sagte sie, stapfte zu dem Waschtopf hinüber, der neben dem Ofen stand, und tauchte ihren Becher in kaltes Seifenwasser. »Er ist ganz von allein gekommen. Er kommt jede Nacht, durch das Schlüsselloch in der Tür.« Ihre Stimme wurde leise. »Er singt mir Lieder vor. Lange, traurige Lieder.« Der Becher landete mit einem dumpfen Schlag auf dem Boden des Topfes. »Besonders schön sind sie nicht.«
    Mutter ließ ganz langsam ihre Näharbeit sinken und starrte Hetties Rücken an. »Kind, was redest du da? Wer ist dieser Mann?«
    Bartholomew sah die Angst in den Falten ihres Gesichts, hörte sie in ihrer tiefen Stimme. Und dann ergab alles, was Hettie gesagt hatte, plötzlich einen Sinn. Ein Fremder… kommt mitten in der Nacht… durchs Schlüsselloch.
    Bartholomew sprang auf, wobei sein Hocker

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